Todesstrafe in den USA.pdf

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Wo es endet
Nichtregierungsorganisationen und studentische Ar-
beitsgruppen bemühen sich, Fälle aufzudecken, in de-
nen Menschen unschuldig in der »Death row« sitzen.
Die wachsende Zahl freigelassener Todeskandidaten hat
dazu geführt, dass heute 90 Prozent aller Amerikaner
davon ausgehen, dass unschuldige Todeskandidaten be-
reits hingerichtet worden sind. Es gibt viele Gründe, wa-
rum es zu einer Verurteilung eines Unschuldigen kommt.
Eine Arbeitsgruppe an der Northwestern Law School
in Chicago untersuchte vor sieben Jahren die Fälle von
86 freigesprochenen Todeskandidaten und fand heraus,
dass falsche Aussagen von Augenzeugen in 45 Fällen ent-
scheidend waren und die Staatsanwaltschaft oder die Po-
lizei in 17 Fällen ihre Amtsplichten verletzt hatten – bei-
spielsweise, indem sie Beweise unterschlugen.
In Dan Brights Fall trifft beides zu: Ein Spitzel hatte
dem FBI schon vor dem Prozess erklärt, dass Bright un-
schuldig sei. Die Behörde behielt dieses Wissen aber für
sich, um den Spitzel zu schützen. Stattdessen sagte vor
Gericht ein Barbesucher aus, der zwölf Stunden getrun-
ken und damit gegen seine Bewährungsaulagen versto-
ßen hatte – und dessen Aussage zur Entscheidung bei-
trug. Die Jury fällte ihr Urteil nach nur eineinhalb Tagen,
der Richter hatte schließlich um eine schnelle Entschei-
dung gebeten, weil ein langes Wochenende bevorstand.
Aber wie kam Bright überhaupt als Täter infrage?
Noch immer gibt es in den USA
die Todesstrafe – doch sie ist umstritten
wie nie, weil immer mehr
Unschuldige freikommen.
luter hat drei zum Tode Verurteilte
besucht.
Text: Serge Debrebant
Zuerst war es nur eine Vermutung – eine Hoffnung, an
die sich seine Gedanken klammerten. Wenige Monate
saß Dan Bright in einer Todeszelle, weil er einen Truck-
fahrer vor einer Bar ermordet haben soll, da erzählte ihm
ein Freund, dass das FBI den Tatort observiert hatte.
Dan Bright schrieb dem FBI und bat die Bundespolizis-
ten, ihm Unterlagen über seinen Fall zu schicken. Als sie
sich weigerten, schrieb er ihnen noch einmal. Als sie sich
wieder weigerten, schrieb er ihnen wieder. Zweieinhalb
Jahre ging das so, bis sie ihm endlich einen 65 Seiten
langen Report zusandten, dessen Inhalt vollständig ge-
schwärzt war – bis auf einen einzigen Satz: »Die Quelle
gab an, dass Daniel Bright für einen Mord im Gefängnis
sitzt, der von ... begangen worden ist.« Der Name des
Mörders war wieder geschwärzt.
Vom Recht, andere im Namen
des Gesetzes umzubringen
Er war an diesem Tag in der Nähe der Bar, als er Schüs-
se hörte und zwei Männer sah, die ihre Gesichter unter
Kapuzen verbargen und wegrannten. Da er damals mit
Drogen dealte, meldete er sich nicht bei der Polizei, son-
dern fuhr wie geplant nach Florida und machte in Disney
World Urlaub. Währenddessen wurde sein Bild bereits
im Fernsehen gezeigt. Die Polizei hatte ihn zur Fahndung
ausgeschrieben, obwohl sie nicht einmal bei seinen El-
tern nachgefragt hatte, wo er sich aufhält.
Wie viele Fehler in Todesstrafen-Prozessen auftreten,
zeigt ein Report, den James Liebman 2000 veröffentlich-
te. Liebman arbeitet als Jura-Professor an der Columbia-
Universität in New York. In seiner Studie wertete er die
Berufungsverfahren von 5 760 Todeskandidaten zwi-
schen 1973 und 1995 aus. Er fand heraus, dass 68 Pro-
zent der Todesurteile aufgehoben wurden, weil schwer-
wiegende Fehler den Prozess beeinträchtigt hatten. Kam
es zu einer neuen Verhandlung, erhielten nur 18 Prozent
der Angeklagten wieder die Todesstrafe, 75 Prozent eine
geringere Strafe und sieben Prozent wurden freigespro-
chen. Im Grunde genommen war Liebmans Report die
Todesstrafe für die Todesstrafe. Dennoch hat sich durch
den Report nicht viel geändert – weil die Todesstrafe für
viele Amerikaner zu den festen Glaubensbekenntnissen
ihrer Gesellschaft gehört. Wie das Recht, eine Waffe
Das Dokument, das die Nummer 212 trägt, führte dazu,
dass Dan Bright freigesprochen wurde. Mittlerweile lebt
er wieder in seiner Heimatstadt New Orleans. Er sitzt
am Küchentisch in seinem Appartement am Stadtpark,
ein durchtrainierter Schwarzer, Mitte 30, mit goldenen
Ohrringen, und erzählt vom Prozess, der Zeit im Ge-
fängnis und wie er sich das Dokument 212 beschaffte.
»Neun Jahre saß ich unschuldig, aber bis heute hat sich
niemand bei mir dafür entschuldigt.«
Die Vereinigten Staaten sind heute das einzige west-
liche Industrieland, in dem die Todesstrafe nach wie vor
angewendet wird. Noch immer wird sie von zwei Drit-
teln der Amerikaner befürwortet, in 36 von 50 Bun-
desstaaten ist sie erlaubt. Besonders im Süden, Dan
Brights Heimat, ist sie stark verbreitet. 80 Prozent al-
ler Exekutionen inden im Süden der USA statt. Seit der
Oberste Gerichtshof die Vollstreckung der Todesstrafe
1976 wieder zuließ, sind landesweit mehr als 1 100 Ge-
fangene hingerichtet worden. In der gleichen Zeit sind
rund 130 Todeskandidaten freigesprochen worden,
weil Zweifel an ihrer Schuld bestanden – Tendenz stei-
gend. Nicht nur Anwälte, sondern auch Journalisten,
THEMA: USA — 19
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tragen zu können. Vor allem für repub-
likanische Politiker gehört zu den unbe-
grenzten Möglichkeiten eben auch die
Möglichkeit, Menschen im Namen des
Gesetzes zu töten.
Oft entscheidet auch der soziale Sta-
tus, wer getötet wird oder nicht. »Wer
sich einen guten Anwalt leisten kann,
wird auch nicht zum Tod verurteilt«, sagt
Richard Dieter, der das Death Penalty
Information Center leitet, das sich um
öffentliche Aufklärung über die Todes-
strafe bemüht. Berühmt ist der Fall des
ehemaligen Footballspielers und Schau-
spielers (»Die nackte Kanone«) O. J.
Simpson, der 1995 angeklagt wurde, sei-
ne Frau und ihren Liebhaber ermordet zu
haben. Er wurde freigesprochen, obwohl
sich viele Beobachter über seine Schuld
einig waren. Simpson hatte ein Heer von
Anwälten beschäftigt, die die Meinung
der Geschworenen geschickt beeinluss-
ten. Anders Dan Bright, der sich nur ei-
nen Anwalt leisten konnte, den Geschwo-
rene später als unbeholfen, unvorbereitet
und betrunken beschrieben.
Kleinstadt fuhr, in der er sich vor Kurzem
ein Haus gekauft hatte. Als Petrole ein-
parken wollte, kam ihm ein Wagen in die
Quere, versperrte ihm den Weg und ein
Mann mit Kapuzenpulli stieg aus. Neun
Schüsse ielen aus wenigen Metern Entfer-
nung durch das Beifahrerfenster. Der Mör-
der setzte sich einige Tage später nach Ka-
lifornien ab, wo ihn die Polizei festnahm.
Er hieß Owen Barber und hatte sich
mit Wolfe in der Highschool angefreun-
det. Barber gab zu, Petrole ermordet zu
haben, sagte aber aus, dass Wolfe ihn be-
auftragt habe. Barbers Freundin und an-
dere Dealer bekräftigten die Geschichte.
Wolfe beteuerte, dass er unschuldig sei,
doch die Jury glaubte ihm nicht. Als sie
ihre Entscheidung verkündete, sackte
Wolfe zusammen und murmelte »Wow«.
Plötzlich war er der jüngste Todeskandi-
dat, den es in Virginia je gegeben hatte.
Sechs Jahre ist das jetzt her, und noch
immer klingt Wolfes Stimme ungläubig,
als er sich an diesen Augenblick erinnert:
»Ich weiß nicht. Was hätte ich denn sa-
gen sollen? Ich bin unschuldig.« Wolfe
spricht ruhig und überlegt. Damals vor
Gericht wirkte er noch wie ein Junge, der
kicherte, wenn man ihn auf das Geld,
die Partys und seine Frauengeschichten
ansprach. Doch dem Staatsanwalt ge-
lang es, ihn als kaltblütig berechnenden
Drogenpaten darzustellen. Es gelang ihm
auch deshalb, weil Wolfes Anwalt noch
nie in einem Mordprozess verteidigt hat-
te. Die Anwaltskammer entzog ihm we-
nige Monate später die Lizenz.
Mittlerweile hat Wolfe einen über-
zeugenden Beweis für seine Unschuld –
einen Beweis, den er dem Zufall verdankt.
Als einer von Barbers Zellengenossen
vor drei Jahren las, dass ein Termin für
Wolfes Hinrichtung angesetzt worden
war, meldete er sich bei Wolfes Anwälten
und erklärte, dass ihm Barber gestanden
habe, den Mord ohne Wolfes Wissen ge-
plant zu haben. Daraufhin besuchte ein
privater Ermittler Barber im Gefängnis
und ließ ihn ein neues Geständnis unter-
schreiben. Da Barber es später widerrief,
wurde es nicht als Beweisstück angenom-
men. Für Wolfe könnte es dennoch der
erste Schritt in die Freiheit sein. Vielleicht
ist es noch nicht zu spät.
In den Vereinigten Staaten ist es üb-
lich, dass Anwälte jede Möglichkeit, das
Urteil anzufechten, ausschöpfen. Jeder
Berufungsantrag durchläuft mehrere
Ebenen, bis er beim Obersten Gerichts-
hof landet. Im Durchschnitt verbringt
ein Verurteilter zwölf Jahre in der To-
deszelle, bevor er hingerichtet wird. Jus-
tin Wolfe hatte schon zwei Exekutions-
termine, aber seine Anwälte erwirkten,
dass beide verschoben wurden. Es ist ein
Rennen gegen die Zeit: Sollte das Gericht
seine letzten Berufungsanträge ablehnen,
könnte er im nächsten Jahr sterben.
Vor fast zehn Jahren befand sich
John Thompson in derselben Lage. Seine
Hinrichtung war angesetzt – da erhiel-
ten seine Anwälte einen Anruf einer pri-
vaten Ermittlerin, die für sie arbeitete.
Sie hatte Blutspuren gefunden, die dazu
führten, dass Thompsons Fall neu aufge-
rollt wurde und er heute im siebten Stock
Ein Beutel voll mit
hochwirksamem Marihuana
Auch Justin Wolfes Anwalt hat während
der Verhandlung viele Fehler gemacht.
Wolfe ist 26 Jahre alt, trägt einen blon-
den Vollbart und sitzt in einem Gefäng-
nis in Virginia, dem Bundesstaat mit
den meisten Hinrichtungen nach Texas.
Sein Fall erregte vor sechs Jahren großes
Aufsehen – zum einen, weil durch ihn ei-
ner der größten Drogenringe in der Ge-
schichte des Bundesstaates aufgelogen
war, zum anderen, weil es weiße, gut
ausgebildete Vorstadtkinder waren, die
diesen Drogenring aufgebaut hatten, und
keine schwarzen Getto-Kids.
Justin Wolfe war 19 Jahre alt, ein
Jahr zuvor von der Highschool abge-
gangen, als er sich in der Wohnung einer
Freundin mit seinem Dealer traf, dem 21-
jährigen Danny Petrole. Petrole brachte
einen großen Matchbeutel voller chronic
mit – hochwirksames Marihuana. Wolfe
nahm es an sich, versteckte es und ging
dann mit Freunden in einen Club,
während Petrole in eine benachbarte
China
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USA: Staaten ohne
Todesstrafe
eines Luxushotels in New Orleans sitzen
und an einer Konferenz teilnehmen kann,
bei der es um die Todesstrafe geht. Er ist
ein kahler, hagerer Mann Mitte 40, trägt
ein Polohemd, eine weite Baumwollhose
und ist schwarz – auch das ist immer ein
Thema, wenn es um die Todesstrafe geht.
Studien zeigen, dass mehr als 40 Prozent
aller Todeskandidaten schwarz sind – ein
Prozentsatz, der dreimal höher als der
schwarze Bevölkerungsanteil ist.
Thompson holt ein großes Foto
aus einer Mappe. Es zeigt einen weißen
Mann, der vor einem Schreibtisch po-
siert. Dieser Mann heißt Jim Williams,
er ist der Staatsanwalt, der gegen John
Thompson geklagt hatte. Das Foto er-
schien in den 90er-Jahren in einer ame-
rikanischen Männerzeitschrift. Williams
sieht selbstsicher in die Kamera, auf einer
Seite seines Schreibtisches steht das Mi-
niaturmodell eines elektrischen Stuhls.
Fünf Köpfe von Verurteilten kleben auf
ihm. Alle hatte Williams in die Todes-
zelle gebracht, alle Urteile wurden später
aufgehoben. Der Kopf in der Mitte ge-
hört Thompson. Auf dem Foto trägt er
Afrolocken. 22 war er damals.
Wenn heute über die Todesstrafe de-
battiert wird, geht es immer öfter auch
um DNA-Beweise. 16 Todeskandidaten
sind bereits freigelassen worden, weil sie
so ihre Unschuld beweisen konnten. Bei
Thompson reichte ein Abgleich von Blut-
gruppen. Die Polizei hatte Kleidung mit
Blutspuren unterschlagen – nachdem die
Kleidung erneut analysiert wurde, war
klar, dass die Blutgruppen nicht überein-
stimmten. Der Mord wur-
de erneut verhandelt und
Thompson freigesprochen. Er klagte auf
eine Entschädigung und bekam 14 Mil-
lionen Dollar zugesprochen – fast eine
Million für jedes Jahr in der Zelle. Dem-
nächst wird sein Fall verilmt: Matt Da-
mon und Ben Afleck sollen die Anwälte
spielen.
Solche Geschichten haben dazu ge-
führt, dass die Unterstützung für die
Todesstrafe seit den späten 90er-Jahren
schwindet. Sie ist immer noch hoch,
aber es ist ein Anfang. Auch die Staats-
anwaltschaften sind gewissenhafter ge-
worden. Seit 1999 hat sich die Zahl der
Vollstreckungen halbiert: 42 waren es
im vergangenen Jahr – 1999, auf dem
Höchststand, wurden noch 98 Menschen
hingerichtet. Die Zahl der Verurteilun-
gen hat sich sogar fast gedrittelt: 1995
waren es 326, 2007 nur noch 110. Und
es gibt Staaten, die sich ganz von der
Todesstrafe abwenden: New Jersey hat
sie im Dezember 2007 abgeschafft,
Maryland, New Mexico und Nebraska
könnten folgen. »Auf lange Sicht«, sagt
Richard Dieter vom Death Penalty In-
formation Center, »wird die Todesstrafe
verschwinden, und die Geschichten über
unschuldig Verurteilte werden großen
Anteil daran haben.«
Es ist schon Nachmittag, als Thomp-
son auf der Konferenz drei Freunde bit-
tet, vorzutreten, und die Jahre nennt, die
sie unschuldig im Gefängnis verbracht
haben. Das Publikum klatscht und jubelt
den Männern zu, als wären sie Holly-
woodstars. Es ist eine unwirkliche Szene,
aber sie tut diesen Männern gut, die so
viele Jahre im Gefängnis verbracht
haben. 43 Jahre insgesamt.
Alaska
Massachusetts
New York
West Virginia
Hawaii
Michigan
North Dakota
Wisconsin
District of Columbia
Iowa
Minnesota
Rhode Island
Maine
New Jersey
Vermont
Gesamt 14 Staaten, ein Distrikt
Quelle: DEATH PENALTY INFORMATION CENTER,
Washington D.C.
Iran
317+
Saudiarabien
143+
Pakistan
135+
USA
42
Hinrichtungen 2007; Quelle: Amnesty International
das Pluszeichen steht für die steigende Tendenz
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