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Cues - Von der Wissenschaft des Nichtwissens
Nicolaus von Cues
Von der Wissenschaft
des Nichtwissens
(De docta ignorantia)
Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens
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Nicolaus von Cusa an den hochehrwürdigen
Cardinal Julian, seinen Lehrer
Deinen großen und gepriesenen Geist wird es mit
Recht befremden, daß ich, indem ich aus dem Barba-
renlande meine Albernheiten (meas barbaras ineptias)
allzu unüberlegt zu veröffentlichen wage, Dich um ein
Gutachten ersuche (te arbitrum eligo), als hättest Du
bei Deiner Stellung am apostolischen Stuhle als Car-
dinal und bei der angestrengtesten Thätigkeit im öf-
fentlichen Dienste noch einige Muße übrig, oder als
könnte Dich, den feinsten Kenner der gesammten la-
teinischen und nun auch der griechischen Literatur,
das Ungewöhnliche des Titels für diese meine viel-
leicht ganz ungereimte Schrift gewinnen. Meine Gei-
stesrichtung ist Dir längst hinlänglich bekannt. Ich
gebe mich der Hoffnung hin, daß nicht so fast der Ge-
danke, hier bisher Unbekanntes zu finden, als viel-
mehr das Befremden über die Kühnheit, mit der ich
mich an eine Abhandlung über die Wissenschaft des
Nichtwissens gewagt, Deine große Wißbegierde zum
Einsehen meiner Arbeit bewegen werde. Die Natur-
lehre sagt uns, dem Appetite gehe eine unangenehme
Empfindung im Gaumen vorher, auf daß die Natur bei
ihrem Selbsterhaltungstriebe hiedurch angereizt neue
Kräfte sammle. So geht wohl auch mit Recht das
Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens
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Staunen, das uns zum Philosophieren anregt (ad-
mirari, propter quod philosophari), dem Wissenstrie-
be vorher, damit unsere Vernunft, der das Begreifen
ihr Sein ist, im Streben nach Wahrheit zur Vollkom-
menheit gelange. Das Seltene fesselt uns, wenn es
auch abenteuerlich (monstra) ist.
So glaube denn, mein einziger Lehrer! in Deiner
Humanität, daß hier etwas Deiner Würdiges verbor-
gen sei und nimm dieses wie immer gestaltete Philo-
sophem eines Deutschen über göttliche Dinge wohl-
wollend auf! Die große Mühe, die ich darauf verwen-
det, hat es mir zu einer äußerst lieben Beschäftigung
gemacht.
Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens
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Erstes Buch
Erstes Kapitel
Unser Wissen ist Nichtwissen
Als Gabe Gottes liegt in allen Dingen, wie wir
sehen, ein natürliches Verlangen, auf eine bessere
Weise zu existieren , wie es ihr natürlicher Zustand
zuläßt. Für dieses Ziel sind besonders diejenigen
Wesen thätig und mit den geeigneten Hülfsmitteln
versehen, denen der Verstand angeboren ist, entspre-
chend dem Zwecke des Erkennens, auf daß jenes Ver-
langen nicht ein vergebliches sei, sondern in dem Ge-
genstande des Verlangens durch den Zug (pondere)
der eigenen Natur seine Ruhe finde. Geht es etwa an-
ders, so kann dies nur accidentiell sein, z. B. wenn
Kränklichkeit den Gaumen oder die Meinung den
Verstand in die Irre führt. Daher sagen wir, die gesun-
de und freie Vernunft erkenne das Wahre , das sie in
einem ihr angeborenen unersättlichen Suchen, Alles
durchforschend, zu erreichen strebt, wenn sie es in lie-
bendem Umfassen ergreift (Quamobrem sanum li-
berum intellectum verum [quod insatiabiliter indito
discursu, cuncta perlustrando attingere cupit], appre-
hensum amoroso amplexu cognoscere dicimus), und
Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens
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wir zweifeln nicht, vollkommen wahr sei das, dem
kein gesunder Verstand widersprechen kann. Alle
Forschung ermißt aber das Ungewisse durch propor-
tionale Vergleichung mit etwas vorausgesetztem Ge-
wissen. Jede Forschung ist mithin eine verglei-
chende (comparativa est omnis inquisitio), mittelst
einer Proportion. Läßt sich das Gesuchte in nahe lie-
gender Proportion mit dem vorausgesetzten Gewissen
in Verbindung bringen, so ergibt sich das (die Wahr-
heit) erfassende Urtheil auf leichte Weise, bedarf es
aber einer vielfachen Vermittlung (multis mediis),
dann entstehen Schwierigkeiten und Mühe. Bekannt
ist dies von der Mathematik, wo die ersten Lehrsätze
auf die ersten und ganz bekannten Principien leichter
zurückgeführt werden, die spätern Lehrsätze aber
schwieriger, weil es nur durch die Vermittlung jener
möglich ist. Jedes Forschen bewegt sich also in einer
leichten oder schwierigen vergleichenden Proportion
nach einem Unendlichen hin, das als Unendliches,
indem es sich jeder Proportion entzieht, unbekannt
ist . Da die Proportion ein Zusammenstimmen in
einem gewissen Einen und zugleich ein Anderssein
ist, so läßt sie sich ohne Zahl nicht denken. Die Zahl
schließt somit alles Proportionale in sich. Nicht also
bloß in der Quantität ist die Zahl, sondern in Allem,
was wie immer substantiell oder accidentiell zusam-
menstimmen und differiren kann. Deßhalb hat wohl
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