Lori Handeland
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Roman
Ins Deutsche übertragen von Petra Knese
Danksagung
Mein herzlicher Dank gilt:
Den üblichen Verdächtigen, meiner Lektorin Jen Enderlin und meiner Agentin Irene Goodman.
Anne Marie Tallberg von St. Martin’s Press, die Bücher liebt und für mich die Werbetrommel rührt.
Meiner Medienberaterin Shannon Aviles, die mit großartigen Ideen, unbändiger Energie und nie versiegendem Enthusiasmus meine Bücher in die Welt hinaus bringt.
Claudia Dain, Pam Johnson, Linda Jones, Peggy Hendricks, Isabel Sharpe. Ich danke euch, dass ihr im Netz für mich da gewesen seid, wenn ich eine virtuelle Umarmung oder einfach nur ein offenes Ohr gebraucht habe. Das bedeutet mir mehr, als ich mit Worten ausdrücken kann.
1
Vor ungefähr einem Monat habe ich einen Pfahl durch das Herz des einzigen Mannes getrieben, den ich jemals geliebt habe. Zum Glück – oder auch zum Pech, je nach Wochentag und Stimmungslage – hat das aber nicht ausgereicht, ihn umzubringen.
Bei Anbruch der Apokalypse wurde ich zur Anführerin einer Schar von Sehern und Dämonenjägern. Viel von diesem biblischen Prophezeiungsmist hat sich tatsächlich als wahr entpuppt.
Für mich ist es eigenartig und gleichzeitig auch erschreckend, dass ausgerechnet ich auserwählt wurde, in der letzten Schlacht gegen das Böse die Guten anzuführen. Denn eigentlich war ich doch bloß eine Kellnerin, die früher mal Polizistin gewesen ist.
Ach ja, und dass ich übersinnliche Fähigkeiten habe, muss ich auch noch erwähnen. Schon immer hatte.
Nicht, dass mir diese Fähigkeiten jemals irgendwelche Vorteile verschafft hätten, außer vielleicht, dass sie mich den einzigen Job gekostet hatten, an dem ich hing, und auch den einzigen Mann, nämlich den zuvor schon erwähnten und so schwer vom Leben zu trennenden Exfreund Jimmy Sanducci. Ich hatte es sogar geschafft, dass mein Partner während des Einsatzes erschossen wurde. Darüber bin ich eigentlich nie hinweggekommen, obwohl mir seine Frau unermüdlich beteuert, dass es gar nicht meine Schuld gewesen sei.
Um diese Schuld irgendwie wiedergutzumachen – als wenn das überhaupt ginge –, hatte ich die Frühschicht in einer Kneipe übernommen, die der Witwe Megan Murphy gehörte. Dabei wurden wir auch noch die besten Freundinnen. Wie das zustande kam, konnte ich mir auch nicht so recht erklären.
Nachdem es im letzten Monat nur Tod und Zerstörung gegeben hatte, bin ich nach Milwaukee zurückgekehrt, um mir hier die nächsten Schritte zu überlegen. Die Armee der Finsternis war auf dem Siegeszug. Drei Viertel meiner Soldaten waren tot, der Rest versteckte sich.
Für mich gab es keine Möglichkeit, sie aufzustöbern, ich wusste ja noch nicht einmal, wer sie waren. Außer … ich fand Jimmy. Doch diese Suche gestaltete sich weit schwieriger als gedacht.
Also, während ich hier herumlungerte und auf eine alles klärende Vision wartete, hatte ich meine Arbeit im Murphy’s wieder aufgenommen. Schließlich musste eine Frau ja auch noch essen und außerdem die Hypothek abzahlen. Erstaunlicherweise bekam man als Anführerin der übersinnlichen Sonnenscheinfraktion – ich mache Witze, tatsächlich nennen wir uns Föderation – kein bisschen Kohle.
In der Nacht, als die Hölle losbrach – mal wieder –, schob ich gerade eine Doppelschicht. Der Barkeeper, der mich ablösen sollte, erkrankte an der Ich-möchte-lieber-auf-das-Sommerfest-gehen-Grippe, und ich konnte Megan mit dem abendlichen Ansturm ja nicht alleine lassen.
Nicht, dass es jetzt außergewöhnlich voll gewesen wäre. Die meisten Partygänger waren zum Sommerfest gepilgert, dem berühmten Milwaukeer Musikfestival, das mitten auf einem See stattfand. Von Zeit zu Zeit schneiten ein paar Bullen auf dem Heimweg herein – auf diese Klientel stützte sich Megans Kneipe. Doch um ehrlich zu sein, so tot hatte ich den Laden noch nie erlebt. Deshalb fiel es der Frau, die bei Einbruch der Dunkelheit auftauchte, auch nicht schwer, meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie kam auf gefährlich hohen Absätzen hereingestöckelt, war groß, schlank und dunkel. Ihr Haar trug sie in einen exotischen Knoten geschlungen, mir selbst war eine solche Frisur nie geglückt, auch nicht, als ich noch überschulterlanges Haar hatte. Ihre bronzene Haut und die beinahe kupferfarbenen Brüste, die der tiefe Ausschnitt ihres Blazers freigab, glühten im Schummerlicht gegen das Weiß ihres Anzugs.
Nach einem kurzen Blick verdrehte Megan die Augen und verzog sich in die Küche. Für Anwälte hatte sie nichts übrig. Wer hatte das auch schon? Die Garderobe, die hohen Hacken und das Transportmittel der Frau schrien doch förmlich: Blutsauger. In meiner Welt hingegen stand immer zu befürchten, dass dieser Ausdruck wörtlich zu verstehen war. Fast hätte ich laut losgelacht, als sie einen Cabernet bestellte.
„Bei dem Anzug?“, fragte ich.
Sie verzog den Mund – und ihre perfekt gezupften Augenbrauen kamen über den Rändern der dunklen Sonnenbrille zum Vorschein. Ihre Augen waren dahinter nur schemenhaft zu erkennen. Braun, vielleicht sogar schwarz. Auf jeden Fall nicht blau, so wie meine.
Die Wangenknochen und die Nase deuteten an, dass sie indianische Vorfahren hatte. Im Gegensatz zu mir wusste sie wohl, von wem sie abstammte. Wer ich gewesen bin, bevor ich zu Elizabeth Phoenix wurde, ist für mich ebenso rätselhaft wie die Identität meiner Eltern.
„Glauben Sie etwa, ich würde auch nur einen einzigen Tropfen verschütten?“, murmelte sie mit rauchiger Stimme.
Wie konnte etwas nur nach Rauch klingen? Diesen Ausdruck hatte ich nie nachvollziehen können. Aber als ich die Stimme dieser Frau hörte, leuchtete es mir urplötzlich ein. Sie klang wie heißer, grauer Nebel, der einen das Leben kosten konnte.
„Sind Sie aus der Gegend hier?“, fragte ich.
Das Murphy’s lag mitten in einem Wohngebiet und war nicht gerade ein Touristenmagnet. Es war so alt wie die Stadt selbst und schon immer eine Kneipe gewesen. In jenen Tagen kamen die Männer nach ihrer Schicht in der Fabrik auf ein Bier herein, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machten. Sie erschienen auch nach dem Abendessen, um sich ein Spiel anzuschauen, oder fanden hier Zuflucht, wenn sie entweder mit ihrer Frau gezankt oder genug von dem Kindergeschrei hatten.
Solche Einrichtungen gab es überall in Milwaukee, verdammt, sogar überall in Wisconsin. Kneipe, Haus, Kneipe, Haus, Haus, Haus, noch eine Kneipe. In Friedenberg, wo ich wohnte, ungefähr fünfzehn Kilometer nördlich von Milwaukee, gab es allein fünf davon. Wer ging schon weiter als bis zur nächsten Straßenecke, um ein Bier zu trinken? Das tat hier niemand.
„Ich komme von überall her“, sagte die Fremde, während sie am Wein nippte.
Etwas blieb ihr an der Lippe hängen. Dank der Schwerkraft rann es aber herunter, sammelte sich und bildete einen Tropfen, der so rot war wie Blut. Bevor er auf das jungfräulich weiße Revers ihres Anzugs fallen konnte, fing sie den Tropfen mit der Zunge auf. Bizarrerweise dachte ich auf einmal an Schneewittchen.
„Oder vielleicht auch von nirgendwo.“ Sie neigte den Kopf. „Entscheiden Sie selbst.“
Allmählich fühlte ich mich etwas unwohl. Sie mochte ja schön sein, doch eher war sie unheimlich. Nicht, dass hier sonst nicht auch täglich Verrückte hereinkämen, aber normalerweise waren immer ein bis zehn Bullen zur Hand.
Klar, ich bin auch mal Bulle gewesen, aber jetzt nicht mehr. Und so ziemlich jeder hier, Megan eingeschlossen, würde Anstoß daran nehmen, wenn die Barfrau mit einer Waffe auf die Gäste zielte. Aber wenn sie natürlich kein Mensch war …
So nachdenklich, als würde ich auf ein Zeichen warten, fuhr ich mit den Fingern über das Messer aus reinem Silber, das ich unter meiner hässlichen grünen Uniformweste verbarg.
Die Frau griff wieder nach ihrem Weinglas. Und im Gegensatz zu ihrer eingangs gemachten Behauptung stieß sie es um. Die rubinrote Flüssigkeit schwappte über den Tresen und sammelte sich dann am Rand, bevor sie auf den Boden tropfte.
Eigentlich hätte ich gleich nach einem Tuch greifen sollen. Stattdessen starrte ich wie gebannt in die schimmernde Lache, in der sich die gedämpften Lichter und das Gesicht der Frau spiegelten.
Das glänzende dunkle Nass beraubte alles seiner Farbe – und sie war ohnehin schon recht farblos gewesen. Schwarze Haare, weißer Anzug, hellbraune Haut.
Ganz langsam hob ich den Blick und sah sie an. Die Gläser hatten sich geklärt. Jetzt bemerkte ich auch ihre Augen. Ich hatte sie früher schon mal gesehen.
Im Gesicht der Frau aus Rauch, als sie in der Wüste von New Mexico aus einem Feuer heraufbeschworen wurde. Kein Wunder, dass sie diese dunkle Brille trug. Beim Anblick solcher Augen würde sich doch jeder in die Hosen machen. Mich hat es selbst überrascht, dass ich nicht sofort zur Salzsäule erstarrt bin. Aus diesen Augen leuchtete ewiger Hass, das jahrhundertealte Böse, eine jahrtausendealte Lust am Morden, gepaart mit einem Hauch von Wahnsinn.
Ich zog mein Messer und warf es – auf diese Entfernung sollte ich doch in der Lage sein, sie zu treffen. Doch mit ihren außergewöhnlich geschwinden Fingern fing sie es aus der Luft.
„Scheiße“, sagte ich.
Mit einem Grinsen sandte sie das Messer zurück – direkt auf meinen Kopf zu. Ich duckte mich, und das Ding blieb in der Wand hinter mir stecken, die Geräusche hätten jedem Comic-Film Ehre gemacht.
Ich richtete mich wieder auf und wollte gerade nach der Waffe greifen und mit einem Satz über den Tresen hechten. Schließlich war ich mit übernatürlicher Schnelligkeit und Kraft ausgestattet. Doch sobald mein Kopf hinter dem Tresen auftauchte, packte sie mich am Hals und zerrte mich zu sich herüber. Dabei gingen lauthals Flaschen und Gläser zu Bruch.
„Liz?“, rief Megan.
Ich öffnete den Mund und rief zurück: „Lauf weg!“ Dann brachte ich keinen Ton mehr heraus, denn die Frau drückte zu.
Sie wandte den Blick in Megans Richtung. Gerne hätte ich gerufen: „Sieh nicht hin!“ Doch zu Worten war ich ebenso wenig imstande wie zum Atmen.
Dem Zischen folgte ein dumpfer Aufprall. Wie ein Körper, der die Wand hinabrutscht und dann auf dem Boden zusammenbricht. Hatte die Frau aus Rauch meine Freundin mit einem einzigen Blick getötet? Zuzutrauen wäre es ihr gewesen.
Ich zerrte an ihren Händen, zog an ihren Fingern. Schließlich gelang es mir, den Griff etwas zu lockern, indem ich ihr einige Finger brach, um Luft zu schnappen.
Was, zum Teufel, war geschehen? Ganz offensichtlich war die Frau aus Rauch als Abgesandte des Bösen darauf aus, mich umzubringen. Seit ich die Anführerin des Lichts in der Schlacht gegen die Dämonen war, schien sich eine große unsichtbare Zielscheibe auf meinem Rücken zu befinden.
Jedoch wurde ich bei den Malen zuvor immer wieder durch eine – wie ich sie nenne – Geisterstimme gewarnt. Ruthie Kanes Stimme, die Stimme der Frau, die mich großgezogen und deren Tod diesen Schlamassel hier erst ausgelöst hatte, würde mir zuflüstern, mit welcher Art von Kreatur ich es zu tun hatte. Selbst wenn ich zumeist nicht wusste, wie der Dämon zu beseitigen war – ohne die ansonsten übliche Ausbildung hatte man mich ins kalte Wasser gestoßen –, wurde ich doch lieber über den drohenden blutigen Tod im Voraus informiert, als von ihm hinterrücks überfallen zu werden.
Die Frau aus Rauch hatte mein Silbermesser genommen, ohne dass ihre Finger danach von roten Pusteln übersät waren. Also keine Gestaltwandlerin, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn … wie ein Werwolf. Vereinigt man nämlich Werwolf und Silber, so endet das in der Regel mit Asche.
Ihrer Kraft nach zu urteilen könnte sie eine Vampirin sein, doch Vampire hätten meine Kehle in Stücke gerissen und sich an meinem Blut geweidet. Dennoch …
Ich ließ ihre Hand los und riss die Uniform auf, sodass Ruthies Silberkreuz herausbaumelte. Normalerweise reagierten Vampire stark auf das Amulett, nicht so sehr wegen der Jesusfigur oder des Materials, sondern weil es geweiht war. Sie hingegen zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Ich presste es trotzdem an ihr Handgelenk. Nichts. Also auch keine Vampirin.
Schlagartig regte sie sich jedoch nicht mehr. Der Griff um meinen Hals lockerte sich, und die kleinen schwarzen Pünktchen vor meinen Augen verschwanden. Sie starrte auf meine Brust, doch nicht mit demselben Ausdruck von Faszination, den ich oft ernte, wenn ich meine Bluse öffne. Selbst ich fand meine Brüste nicht schlecht. Doch hatte sich bislang noch nie eine Frau so dermaßen dafür interessiert. Mir gefiel das ebenso wenig, wie mir diese Frau gefiel.
„Woher haben Sie das?“ Aus ihren Augen sprühten Funken, und ich hätte schwören können, dass in ihren schwarzen Pupillen die Flammen hochschlugen.
„Dd-das Kreuz ist …“
„Ein Kreuz kann mich nicht aufhalten“, sagte sie feixend, riss mir das geliebte Andenken vom Hals und schleuderte es weg.
„He!“ Hastig zerrte ich ihr Amulett auf die gleiche Weise vom Hals.
Es war, als stünde die Luft still, doch gleichzeitig bewegte sich mein Haar in einem durch nichts zu erklärenden Wind.
Eine Entsetzliche, flüsterte Ruthie endlich, Naye’i.
Ein Naye’i war der Geist eines Navajo. Davon hatte ich schon gehört. Und plötzlich fügten sich die Puzzleteile mit einem beinahe hörbaren Klick zusammen.
Die Frau aus Rauch wich zurück, starrte dabei auf meinen Türkis, der erst neulich seine eigene Kette bekommen und bislang mit Ruthies Kreuz zusammengehangen hatte.
„Ihnen gefällt mein Türkis wohl nicht.“ Ich richtete mich auf.
Ihr Blick wanderte von dem Stein zu meinem Gesicht. Zwischen ihren halb geschlossenen Lidern konnte ich lediglich orange Flammen entdecken. „Das ist aber nicht Ihrer.“
„Ich kenne da jemanden, der würde das Gegenteil behaupten.“ Sehr langsam näherten sich meine Finger dem blaugrünen Stein. „Nämlich der, der ihn mir geschenkt hat. Ich glaube, Sie nennen ihn ‚Sohn‘.“
Sobald sich meine Finger darum schlossen, glühte der Stein und wurde weiß, und die Naye’i knurrte wie der Dämon, der sie auch war, löste sich in Rauch auf und verschwand.
2
In der Nähe der Bar bewegte sich etwas, geduckt ging ich darauf zu, wenn mir auch – abgesehen von dem Türkis – gerade die Waffen ausgegangen waren. Aber viel würde der Stein gegen die Knarre in Megans Hand ohnehin nicht ausrichten.
Trotz ihrer zierlichen Gestalt war Megan stark, wahrscheinlich kam es daher, dass sie drei Kinder durch die Gegend schleppen musste – erst in ihrem Bauch und dann auf dem Arm –, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie eine alleinerziehende Mutter mit einem florierenden Geschäft war. Viel Schlaf bekam sie nicht, oft vergaß sie sogar zu essen; trotzdem glänzte ihre blasse Haut in der Sonne wie Speck in der Pfanne und sah genauso gesund aus wie das dicke rot gelockte Haar und die dunkelblauen Augen.
Sie war so niedlich wie ein Knöpfchen – oder wie irgendwelche anderen Dinge, die als Vergleich herhalten mussten, Hündchen und Kätzchen. Megan wurde jedes Mal fuchsteufelswild, denn sie wollte elegant und stilvoll wirken. Aber man kann sich das nicht immer aussuchen. Ich zum Beispiel war groß, dunkelhaarig und anders als alle anderen, obwohl ich doch immer nur so wie alle anderen sein wollte.
Eigentlich hätte Megans hinreißendes Aussehen, ihr Mädchen-von-nebenan-Charme ausgereicht, um sie auf meine schwarze Liste zu setzen, wenn sie nicht den gleichen trockenen und sarkastischen Humor hätte wie ich und es ihr außerdem vollkommen egal war, wie sie aussah oder welche Wirkung sie auf andere hatte. Wichtig waren ihr nur die Kinder, die Bar und ich. Diese Verrückte.
Sie senkte den Gewehrlauf und warf mir einen kurzen, unverständlichen Blick zu, dann schenkte sie sich ein Gläschen Jameson ein und kippte es wie Wasser.
Ich atmete auf, erleichtert, dass Megan noch am Leben war und hier im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte vor mir stand. Offenbar hatte die Frau aus Rauch die Kraft, jemanden mittels eines einzigen Blickes ins Land der Träume zu befördern. Aber töten konnte sie auf diese Weise nicht. Seit Wochen war das die erste gute Nachricht. Ich fragte mich, warum sie es nicht bei mir ausprobiert hatte.
Ohne die Stimme zu erheben sagte Megan: „Du setzt dich jetzt hierhin und erzählst mir, was zum Teufel das war.“
Ich zögerte. Das würde doch eine Riesenpanik auslösen, wenn die ganze Welt erführe, dass der Jüngste Tag kurz bevorstand. Aber ich wusste nicht, wie ich mich aus der Affäre ziehen sollte, ohne Megan irgendetwas zu verraten. Es sei denn, ich würde jetzt einfach die Flucht ergreifen und nie wieder zurückkehren. Wahrscheinlich eine gute Wahl, wenn man bedachte, dass meine Anwesenheit Megan beinahe das Leben gekostet hatte.
„Ja, ja“, sagte Megan. „Du bleibst schön hier.“
Sie war verdammt gerissen. Ihrer drei Kinder wegen hatte sie diesen außergewöhnlichen Spürsinn, wie ihn nur Mütter haben. Ein kurzes Flackern in den Augen, ein Zucken der Schultern, und Megan wusste ganz genau, was ich vorhatte.
„Und bilde dir bloß nicht ein, du könntest hier ähnlich verschwinden wie deine Freundin.“ Megan hielt inne und runzelte die Stirn. „Kannst du so verschwinden?“
Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Gab klein bei. „Nein. Kann ich nicht.“
Verblüfft zog sie die Brauen in die Höhe. Sie war ebenso überrascht wie ich, dass ich gerade zugegeben hatte, dass sich die Frau aus Rauch mit einem Puff in Wohlgefallen aufgelöst hatte.
„Was kannst du denn dann?“, fragte sie. „Abgesehen von deiner Fähigkeit Menschen aufzuspüren oder anhand einer einzigen Berührung zu sagen, was sie getan oder wen oder was sie versteckt haben.“
„Ich muss sie nicht immer berühren“, murmelte ich. Manchmal reichte auch ein Gegenstand, der ihnen gehörte. So hatte ich Jimmy das letzte Mal ausfindig gemacht. Leider hatte Sanducci mir dieses Mal nichts hinterlassen, was ich hätte liebkosen können.
„Ich … ähm … Scheiße.“ Ich ging zur Tür und drehte das Schild von Geöffnet auf Geschlossen und verriegelte von innen. „Schenk mir auch mal einen ein.“ Mit dem Finger zeigte ich auf die Whiskeyflasche, dann sammelte ich sowohl mein Kruzifix als auch das Amulett der Frau vom Boden auf und stopfte es mir in die Hosentasche.
Nachdem ich ein paar Scherben vom Barhocker gewischt hatte, setzte ich mich. Mit einem Ruck riss Megan mein Messer aus der Wand. Wortlos schob sie mir die silbern glänzende Waffe über den Tresen zu. Ich verstaute das Ding dort, wo es hingehörte, und rückte, so gut es ging, meine Kleider wieder gerade. Aber da ich zu viele Knöpfe verloren hatte, gab ich es schließlich auf und nippte am Whiskey. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte, also nippte ich weiter am Glas.
„Ruthie ist gestorben“, regte Megan an.
Genauso gut konnte ich hier mit meiner Geschichte anfangen.
Offiziellen Berichten zufolge wurde Ruthie Kane ermordet, und das wurde sie auch – nur nicht von menschlicher Hand oder mit herkömmlichen Waffen. Die örtliche Polizei war mit ihrer Weisheit am Ende. Und das konnte ihnen auch niemand verdenken, denn nicht alle Tage starb eine kleine alte Frau auf ihrem sonnenbeschienenen Küchenboden an den Bissverletzungen wilder Tiere.
Letztlich hatte Jimmy einem toten Dämonenjäger die Schuld an ihrem Tod in die Schuhe geschoben – vor allem, um den Verdacht von sich selbst abzuwenden –, und die Polizei hatte den Köder geschluckt. Irgendwie mussten sie den Tod ja schließlich erklären.
„Liz?“, murmelte Megan und brachte mich damit ins Hier und Jetzt zurück.
„Ruthie hat mich berührt und mir ihre Kräfte gegeben“, sagte ich.
„Kräfte“, wiederholte Megan.
„Hellsehen, weißt du …“ Hilflos fuchtelte ich mit den Händen in der Luft herum, unsicher, wie ich es erklären sollte.
Näherte sich ein übernatürliches Wesen, dann hörten wir Seher eine Stimme – bei mir war es Ruthies Stimme –, die einem verriet, welche Art von Dämon sich hinter dem gütigen menschlichen Antlitz verbarg. Oder, wenn wir Glück hatten, wurden wir im Voraus durch eine Vision gewarnt. Dann mussten wir einen Dämonenjäger aussenden, der das Problem beseitigte.
Kurz vor ihrem Tod hatte Ruthie ihre seherischen Kräfte auf mich übertragen und mich dadurch in ein Höllenkoma geschickt – aber ich hatte es überlebt. Zunächst hat es eine Weile gedauert, bis ich gelernt hatte, die Kräfte zu beherrschen; manchmal war ich mir immer noch nicht sicher, wer hier wen beherrschte, aber so langsam hatte ich den Dreh raus.
„In unserer Welt gibt es Monster“, fuhr ich fort. „Schon seit Urzeiten.“
„Darüber bin ich mir durchaus im Klaren.“
...
jessab