Agnes Miegel - Alt-Königsberger Geschichten.doc

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Mit 10 Abbildungen

Agnes Miegel

 

Alt-Königsberger Geschichten:

 

zwischen Altstadt, Kneiphof und Löbenicht

 

 

eingeleitet von Anni Piorreck

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Miegel, Agnes:

 

Alt-Königsberger Geschichten: zwischen Altstadt, Kneiphof und Löbenicht / Agnes Miegel. - Leer: Rautenberg, 1994 ISBN 3-7921-0541-1

 

© by Verlag Gerhard Rautenberg 1994 Dieser Band ist eine Neuauflage des gleichnamigen, im Verlag Eugen Diederichs erschienenen Titels Alle Rechte vorbehalten

 

Gesamtherstellung: Rautenberg Druck GmbH, 26787 Leer Printed in Germany ISBN 3-7921-0541-1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VORWORT

 

zur Neuausgabe 1989

 

Königsberg in Ostpreußen ist eine außerordentliche Stadt. Das heißt, sie steht außerhalb der gewohnten Ordnung, sie ist anders als alle Großstädte der Welt.

 

Nicht, weil sie im Krieg bis auf den Grund zerstört wurde, weil ihre Bewohner sie verlassen mußten, Fremde sie wieder aufbauten und ihr einen anderen, fremden Namen gaben - dieses Schicksal teilt sie mit Danzig, Breslau, Stettin. Königsberg, das seit Jahrzehnten Kaliningrad heißt, bleibt für Besucher unbetretbar. Niemand wird hier in den nördlichsten Teil Ostpreußens, der 1945 von Sowjetrußland besetzt wurde, hereingelassen.

 

Soweit der Befund im Vorwort zur Erstausgabe dieses Buches. Stimmt er noch? Seit kurzem hat sich einiges geändert: Erstmals nach 44 Jahren ist es möglich, auf dem Umweg über Leningrad und Wilna per Flugzeug für ein paar Tage nach Königsberg zu reisen. Das ist eine neue Situation für all die Familien, die einst aus Stadt und Land vertrieben wurden; auch, wenn auf vielfachen Gründen nur einem kleinen Teil der alten Königsberger eine solche Fahrt möglich sein wird. Fotos und Fernsehbilder zeigen eine veränderte Stadt, mit hohen gleichförmigen Wohnbauten, anders geführten Straßen, kaum wiederzuerkennender Topographie. Nur einige alte Bezugspunkte, wie Hauptbahnhof, Börse, Kant-Grabmal, Schillerdenkmal, und natürlich der Pregel. Das Schauspielhaus, die Luisenkirche stehen da unzugehörig, beinahe beziehungslos in einem Mißverhältnis zu dem so anders gewordenen wesensfremden Stadtgebilde. Wir sollten dennoch versuchen, diese Stadt für uns anwesend zu machen, den Silhouetten und Schatten der Erinnerung klarere Konturen zu geben. Wie könnte dies besser geschehen als durch das Erinnerungsvermögen und die Sprachkraft einer Dichterin, die lange Jahrzehnte dort gelebt, das Wesen dieser Stadt erspürt, ihre Geschichte gekannt, ihre Menschen geliebt, ihre Luft geatmet hat. „Der Ruch von Teer und von Getreidesäcken strich mit dem Ostwind durch die Lastadie“, so beginnt eines der frühesten Gedichte Agnes Miegels, und so setzt es sich fort, in Augenblicksgeschichten und Historien, Bildern der Erinnerung und visionärer Beschwörung. Das Autobiographische, die lebenslange Verbundenheit Agnes Miegels mit der Stadt Königsberg verleihen diesem Buch einen eigenen Reiz. Auf der Pregelinsel nicht weit vom Dom wurde sie 1879 geboren, damals, als Preußen bis nach Kiel, Frankfurt und ins Saargebiet reichte, unangefochtene Hegemonialmacht des jungen Deutschen Reiches. Oft war die junge Agnes zum alten Speicherviertel am Hundegatt gelaufen; der Vater hatte ihr alles erklärt, die großen Handelshäuser, den Elefanten-, den Hunde- und Pelikanspeicher. Breite Lastkähne lagen im Pregel mit braundunklen Segeln. Schwere Säcke hoben sich über Fachwerkmauern, Rollwagen ratterten über das Kopfsteinpflaster, Brücken klappten hoch - besonders dann, wenn man es eilig hatte. In diesen Alt-Königsberger Geschichten entsteht - über alle örtlichen Gebundenheiten hinaus - vor unseren Augen ein Stück Preußen. Es ist ein eher verschwiegenes Preußentum, das dem Klischee kaum entspricht, in seiner religiös bestimmten Geistigkeit, seinem stillen Vertrauen in die Literatur und die schönen Künste, seiner Heiterkeit, Anmut und Daseinsfreude. So preußisch genügsam es oft zuging, zu allen Jahreszeiten wurde viel und gern gesungen und musiziert. Es waren Zeiten des späten Biedermeier, die Kindheit und Jugend Agnes Miegels bestimmt haben. Geschichte wird in Geschichten lebendig. Das alte Schloß, im 13. Jahrhundert errichtet und seit 1525 Residenz der Herzöge von Preußen, spielt hinein in die aufregende Erzählung um Hochverrat und Hinrichtung (Das Bemsteinherz). Große Namen gewinnen Gestalt: im Bernsteinherz Herzog Albrecht von Preußen, im Nachtspaziergang Simon Dach und der Organist Albert aus dem Dichterkreis der Kürbishütte.

 

Manche Namen sind verschlüsselt, um die leibhaftigen Vorbilder nicht erkennen zu lassen. Aber die Leser in Königsberg wußten doch allemal, wer das war - die alten Kaufherren Heygster und Conneegen in Der Abschied oder der berühmte Arzt Dr. Lebus in Heimgekehrt. Zwei erzählende Gedichte tragen im Titel den Namen Königsberg: das erste mit visionären Szenen aus der Entstehungszeit der Stadt, geschrieben am 13.Juni 1924, zur Wiederkehr des 200. Jahrestages, an dem die drei alten Städte Altstadt, Kneiphof, Löbenicht zur „Königlich preußischen Haupt- und Residenzstadt“ zusammengelegt wurden. Das zweite, Abschied von Königsberg, nach dem grauenvollen Untergang der geliebten Stadt geschrieben, ist Dokument einer Endzeit: „Und sahen schauerlich / Den Pregel schwarz an den verkohlten Pfählen / Vorbei an leeren Hafenstraßen schleichen, / Und sahn, wie Opferrauch am Grab, die reichen / Schätze gesunkner Speicher qualmend schwelen ...“

 

Agnes Miegel hat ihre Vaterstadt nie wieder gesehen. Nur in ihren Träumen ist sie unzählige Male nach Königsberg zurückgekehrt, und sie berichtet - man liest es mit Erschütterung - immer von neuem in ihren Tagebüchern darüber, z.B. 1957: „Ich bin immer wieder in Königsberg und gehe über die geländerlose, mit alten wackligen Holzplanken ausgeflickte Brücke ...“ Etwas weiter: „Immer wieder und wieder von der Pregelbrücke (Langgasse) geträumt ..., über die mit mir eine große Menschenmenge drängt.“ Einige Male noch hat sie Königsberg dichterisch heraufbeschworen, so in den Erzählungen Alte Liebe, Von der Bärenapotheke bis Oxböl, Mein Dom und Verlorene Heimat. Diese Geschichten findet man nicht in der siebenbändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Werke (1952-1965), ebensowenig wie eine Reihe von Skizzen, die Agnes Miegel in den Zwanziger Jahren mit rascher, sicherer Hand für die Ostpreußische Zeitung entwarf: Kindergeburtstag, Nach dem Schneefall, Wenn der Schloßteich blühte, Der goldene Tag. Das sind heitere Erinnerungsbilder, sehr genau im Atmosphärischen und von einer Detailtreue, die um so erstaunlicher ist, wenn man weiß, daß es sich hierbei um Auftragsarbeiten unter Zeitdruck handelte.

 

Vielschichtig und erstaunlich umfangreich sind die Königsberger Zeugnisse in Agnes Miegels Dichtung. Wie ihre Briefe, so konnten auch die größeren Novellen Noras Heimkehr und Dorothee in diesen Band nicht aufgenommen werden. Es galt, Bekanntes mit Unbekanntem zu mischen, und ich hoffe, die hier getroffene Auswahl zeigt auch das Gesamtwerk Agnes Miegels, nun von einem besonderen Blickwinkel aus angeleuchtet, in neuem Reichtum. Die Bilder stammen aus Agnes Miegels eigenem Besitz; sie hat mir ihre kleine Sammlung kurz vor ihrem Tode 1964 geschenkt.

 

 

 

Anni Piorreck

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ALTE LIEBE

 

 

 

Von Zeit zu Zeit senden mir freundliche Landsleute Berichte zu, die sie in alten Zeitschriften über unsere Heimat, über Königsberg oder gar über mich entdeckten. So fand vor kurzem auch ein etwas vergilbtes Blatt zu mir, wo eine Thüringerin über ihre Reise nach Ostpreußen erzählt und von ihrer Wanderung durch Königsberg an Hand einer hilfsbereiten Unbekannten. Was diese, eine direkte Nachkommin des erfindungsreichen Odysseus, ihr alles von den Sehenswürdigkeiten unserer alten Haupt- und Residenzstadt erzählt hat, wage ich nur zu vermuten. Jedenfalls witterte sie bald literarische Verehrung für mich, und so zeigte sie der Fremden „mein Vaterhaus“, wo ich geboren war und aufwuchs, wo ich dichtete und lebte, bis ich auf die Hufen zog, um mich dort, nie getröstet, danach zu sehnen.

 

Es war eine rührende Geschichte, und ich war beim Lesen sehr ergriffen - am meisten, weil nichts, aber auch gar nichts davon stimmte. Was mich gegenüber der gutgläubigen Verehrerin recht bedrückt. Denn meine Natur ist die des seßhaften Nachkommen von Bauer und Bürger, und ich wäre einem Vaterhaus treu geblieben über alle Mängel und Zeiten -allein das Schicksal wollte es nicht. Denn es gab mir Eltern, die trotz jener Vorfahren - zu meinem mit jedem Jahr wachsenden Erstaunen - dem in jenem verstädterten Zeitalter weit verbreiteten Irrtum verfielen, daß nur eine Mietswohnung erstrebenswert sei.

 

So begann schon früh zu meiner Qual der immer gleiche Wechsel von Wohnungssuche und Auszug, von Einzugschaos, neuen Hoffnungen, begeisterten Verwandtenkaffees -und wachsenden Enttäuschungen bis zum neuen Entschluß: „Wir ziehn!“

 

Nun begriff ich schon im Flügelkleide, daß auch die schönste auf Kündigung gemietete Wohnung niemals das sein kann, was nur ein eigenes Haus für Menschen bedeutet, die das Gemüt eines Hauskaters mitbekommen haben und für die es schon unsagbare Bitternis bedeutet, aus geliebten Räumen fortzugehen.

 

So hängt Erinnerung und Liebe heute noch an den drei Wohnungen, die für mein Leben bestimmend waren: der schönen, großen am alten Jahrmarktsplatz, in der wir glücklichste Zeiten verlebten und in der ich im Traum heute noch meine Eltern suche.

 

An der letzten in der Hornstraße, auf dem Grund und Boden, der einst zum Landhaus der Urgroßeltern gehörte und aus der ich an einem grauen Februarmorgen mit guten Freunden und getreuen Nachbarn für immer fortging. Und an der, die meine erste Liebe wurde, wie der nahe Dom mein erster Freund - die Wohnung in dem doppelgiebligen alten Barockhaus in der Magisterstraße, in die ich sanft schlafend, hinter den blauen Gardinchen meines Kinderwagens einzog. Denn geboren bin ich in einem alten Haus Ecke Brodbänkenstraße, in einer kleinen altmodischen Wohnung. Aber dies Haus mußte bald einem massiveren Neubau weichen.

 

Die zur Fremdenführerin bestimmte Dame hat aber meiner Verehrerin weder dies noch das Barockhaus gezeigt, sondern eins, das sehr viel jünger war als ich - das hübsche Haus neben dem Artushof, in dem ich noch lange mit meinem Vater gewohnt habe. Aber das war viele Jahre später. -Und dort standen noch alte Häuser, als ich in der Magisterstraße mir erst einmal rutschend die geliebte Wohnung eroberte, so wißbegierig-beglückt wie nur je ein Weltumsegler seinen neuentdeckten Kontinent.

 

Noch kannte ich ja nicht das Haus. Erst, als ich schon an Minnas Hand mitgenommen wurde, wagte ich es einmal, ganz an der hohen Front empor zu blicken. Und so steht es heute noch vor mir: durch die Höhe schmal wirkend, sehr stattlich, wenn es auch nur einen nischenartigen Aufgang mit einer hochgestellten Abendbank hatte, da in der schmalen Straße kein Raum für einen steinernen Beischlag oder verandaartigen Wolm war. In den Scheiben der sehr hohen, schmalen Fenster des ersten Stocks spiegelte sich das Licht, über ihnen wölbten sich schön gemeißelte Sandsteinbögen wie Augenbrauen. Schmal wie diese, aber kleiner waren die Fenster der Zimmer darüber, und rund blinkten die Mansardenfenster unter den sehr hohen Barockgiebeln, die mir immer wie zwei gute dicke Pferdeköpfe erschienen, die uns beschützten.

 

An diesem Haus lernte ich - lange, ehe späte Schulweisheit mich mit Kunst- und Kulturgeschichte bekannt machte - die Bauart der alten Kaufmannshäuser der Waterkant, wie man sie damals noch von Amsterdam bis Riga, von Bremen bis Kopenhagen, von Lübeck bis Elbing, überall fand. Wenn auch schon oft, wie hier, in verarmenden Zeiten durch Umbauten zu Mietswohnungen gewandelt und seiner sinngemäßen Bestimmung als Wohn- und Kontorhaus einer Sippe in spätem Unverständnis entfremdet.

 

Noch in der Erinnerung fühle ich wieder das Glücksgefühl, das ich immer beim Betreten des Flurs verspürte. Seine düstere Kühle schreckte mich nicht, auch nicht die immer verschlossenen Türen zu den ehemaligen Kontorräumen. Gleich war ich auf der breiten Treppe mit den bequemen Stufen und dem zu hohen schönen Geländer. Sie machte einen kühnen Schwung, von dem ich mehrere Male herunter sauste, dann kam eine Glastür, die ich nicht liebte, trotz bunter Borte - sie war wohl eben beim Umbau zur Mietswohnung eingefügt und mißfiel mir wie der Klingelzug. Von dem engen Flur dahinter, der nur ein Podest gewesen, führte die schmälere Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo das alte Ehepaar wohnte, dem jetzt dies Haus gehörte - an die ich keine Erinnerung habe, wohl aber an den Waldruf ihrer Kuckucksuhr. –

 

Die sehr hohen Zimmer unserer Wohnung, die schönen Rokokotüren, alles Glastüren, zeigten noch deutlich, daß dies einmal die Fest- und Wohnräume der Erbauer gewesen waren, deren Kinder- und Schlafzimmer dann darüber lagen, und über diesen in den Mansarden die Wohnräume der Dienstboten und Lehrlinge. Ganz oben kam dann der Boden. Ich war schon vier Jahre alt, als ich zum erstenmal von Minna dorthin mitgenommen wurde. In den sonnenwarmen Dunst von altem, harzschwitzendem Gebälk, von Rauch und Kräutern. Und von diesem Boden durfte ich nach beglücktem Wühlen in den Schätzen von Minnas großem Reisekorb zum erstenmal aus dem Lukenfenster sehn - fest von Minna gehalten -, auf den blitzenden Pregel, auf gelbe Holzschlangen, auf weiße und bunte Segel und spitze Masten, in dämmrige Gasse und auf Pferde, die wie braune Käfer ihre großen Rollwagen über die Brücke zogen. Aber das war ein Erlebnis, groß und selten wie eine Bergbesteigung. Mein Leben ging da unten weiter, meist nur in dem Zimmer, das „die Kinderstube“ hieß, obgleich es eigentlich das richtige Wohnzimmer war. Es hatte niemals Sonne, höchstens den Widerschein blinkender Fenster von Gegenüber. Aber hygienische wie pädagogische Ansichten waren noch nicht entdeckt, und so gediehen wir alle auf das Beste in diesem Nordzimmer, und im Nebenzimmer der Vater in seinem „Comptoir“, wie es sich damals noch schrieb, dessen Einrichtung auch von der Maas bis an die Memel genau so genormt, nur sehr viel gemütlicher war, wie heute eine Schwedenküche.

 

Aber dieser Raum war für mich tabu - mit Ausnahme des Sonntagnachmittags, wenn ich im Papierkorb wühlen und mit Blau- und Rotstift auf alten Umschlägen kritzeln durfte, ein nicht allzu verlockendes Vergnügen, da dort am Sonntag nicht geheizt wurde, während in meinem Zimmer der große weiße Ofen „kachelte“. Er mußte seine Wärme ja auch dem dunklen Zwischenzimmer abgeben, dem „Alkoven“, wie es noch immer genannt wurde, in dem die Eltern schliefen, bewacht von dem großen Wäschespind aus Zuckerkistenholz und dem von einer Großtante ererbten, uns allen greulichen, aber als Andenken geehrten Stahlstich einer busenreichen, rosenbekränzten und glotzäugigen Schönen. Es war wohl einst der Raum für die Leinenschränke, die Servanten mit dem englischen Fayenceservice und den böhmischen Gläsern gewesen, wenn die Erbauerfamilie und ihre Nachkommen feierten. Noch zeigten die Wände eine unvergeßlich schöne alte Tapete, mit heiterem Rosenmuster auf blauen Bändern, die ich immer wieder bewunderte, wenn ich durch die am Tag weit offene Tür in das immer strahlend helle Eßzimmer ging, die „rote Stube“, wie ich sie nach dem schweren Sofa mit dem bordeauxroten Ripsbezug nannte, der gut zu dem dunkelgeflammten Nußbaumholz der Möbel paßte.

 

Noch zeigten die gleichen, schmalen, graublank gelackten Dielen, die gleiche Anordnung der Fenster und Deckenbalken, daß es einst der zu solchem Haus stets gehörende dreifenstrige Saal gewesen war, den leider frühere Bewohner durch eine dünne Wand in dies zweifenstrige und ein einfenstriges Zimmer geteilt hatten. Diese törichte Anordnung glich meine Mutter etwas aus, indem sie allen Fenstern die gleichen, reichgestickten Schweizer Gardinen gab, und statt der häßlichen Tür nur eine Portiere nahm, so daß ich von der Schwelle immer ungehindert in die gute Stube sehen konnte, auf die großen Kaulbachstiche im goldnen Rahmen über dem kleinen grünen Sofa, auf die beiden Gummibäume auf den kleinen Tischchen daneben, auf die blaugläserne Obstschale auf dem ovalen Tisch. Es war alles kühl und ein bißchen feiertäglich. Die großen Palmen vor dem Fenster liebte ich gar nicht, sie verdeckten nur die alte Linde über dem Teerdach des Vorbaus.

 

Wenn ich mich ein Weilchen am bunten Geflimmer der immer leise bebenden Glasprismen des Kronleuchters ergötzt hatte, nahm ich Mutters kleinen Schreibtischsessel, schob ihn an das Wohnzimmerfenster und sah hinaus auf den Pregel, auf die Kähne, die da am Bollwerk lagen oder schon darauf warteten, daß die Köttelbrücke aufging, auf die Holzflöße und auf das bunte Menschengewimmel, das zu Wasser und auf dem schmalen Uferweg - Kai wäre zu hochtrabend gewesen als Benennung - vorüberging, und ich wurde nie müde, es anzustaunen. Bis zum nächsten Schwibbogen, bis zu dem Floß, auf dem Minna und die Nachbarn ihre Wäsche spülten (denn noch gabs keine Zellulosefabrik, es war das klare Wasser eines tiefen Wiesenflusses), reichte meine Welt. Was dahinter kam, das ergründete ich erst später, als ich schon zu Besorgungen, ja, sogar auf den Altstädtischen Markt mitgenommen wurde, und an die Succaser Obstkähne am Junkergarten. Soweit gingen aber Kenntnis und Ehrgeiz noch nicht, als ich da auf den Pregel blickte und herüber, von wo durch die offne Raute der Kienhauch der großen Holzplätze kam.

 

Der schläferte ein, wie das Flappen des Wassers unten am Bollwerk, und es war gut, dann herunterzugleiten und in die schummrige Küche zu laufen, wo Minna immer einen kleinen Becher mit Milch oder ein zuckerbestreutes Butterbrot für mich hatte, und wo auf mich unter dem hohen Leiterstuhl die alte Fußbank wartete, von der ich in die Schwärze des Herdmantels starrte, auf dessen Bort die Messingkessel funkelten.

 

So lebst Du heute noch in mir, geliebtes altes Haus, geliebte Wohnung!

 

Es blieb mir erspart, den Aufbruch aus dir mitzuerleben; man hatte mich zu Tante Usche in das Stift an der Neuroßgärter Kirche gebracht. Aber noch heute weiß ich, wie entsetzt ich mich an einem andern Abend mit meinem Bett in einem fremden Zimmer, einer fremden Wohnung, in ganz andrer Straße fand.

 

Doch das ist eine andere Geschichte. Ich will nur noch sagen, daß ich erst nach vielen Jahren den Mut aufbrachte, noch einmal durch die Magisterstraße zu gehn. Selbst als ich wieder am Domplatz wohnte, vermied ich es. Aber als ich an einem klaren, kühlen Septembertag noch einmal, zum letztenmal, in den Kneiphof ging, dieses alte Inselherz meiner Stadt, und alles gespenstig verwandelt, immer noch Glut aus den leeren Kellern hauchend, um mich stand, als ich den Dom sah, kohlschwarz wie einen unseligen Geist, und heraustrat in die grelle Helle - da ragte über den Trümmern der alten Häuser etwas empor, schön geschwungen und würdig noch in seiner Verlassenheit, über sinnlos gewordener Leere wachend wie das Haupt eines edlen Pferdes: der letzte der beiden Barockgiebel des alten Hauses in der Straße, die einst die Magisterstraße hieß.

 

 

GESPRÄCH MIT DEN AHNEN

 

Im Traum stehe ich wieder in meiner Vaterstadt, auf der alten Brücke zwischen Münchenhof und Lindenmarkt, und blicke stromaufwärts. Alles ist, wie es immer war: kleine wimpelbunte Dampfer tragen stadtmüde Menschen und wasserselige Kinder in den Wiesenfrieden der Pregeldörfer. Flinke Motorboote schnellen wie Fische unter den Brückenpfeilern vor, ein Holzkahn gleitet langsam hinter dem schwarzen Kohlendampfer über das blauspiegelnde, glänzende Wasser. Über roten Giebeldächern "und geteertem Schuppendach kreisen blitzende Taubenschwärme, goldne Kirchturmskugeln funkeln aus tiefer Augustbläue und vom Bollwerk drüben trägt der weiche, wasserfeuchte Wind den süßen frischen Heuduft der hochbeladenen Niederungskähne. Alles ist wie immer, hier und vom andern Geländer, wo ich dunkel vor dem goldstäubenden Spätnachmittagshimmel den Giebelzug der Fachwerkspeicher sehe, bunt und vertraut und über dem Ahornbaum am Ufer, der einst in mein Fenster blickte, den Dom mit zierlichem Dachreiter zwischen spitzem Turm und schwerer Giebelwucht. Alles ist, wie ich es als Kind sah vor mehr als einem halben Jahrhundert.

 

Nein, nicht alles. Die Brücke, auf der ich stehe, war wirklich, und nicht nur dem Namen nach, eine Holzbrücke. Auf ihren regenzerwaschenen, windgedörrten Planken standen die allerletzten der Buden, grau und zerfleddert wie greise Bettlerinnen, an denen einmal das Geschick über das Leben des kleinen Jungen entschied, den es mir zum Vater bewahrte. Unten, wo im Vorgärtchen des hohen Mietshauses die ersten gelben Herbstblumen blühn, sah ich noch den rotgestrichenen, schiefen Fachwerkbau des alten Schlachthofs, so wie er ihn sah auf dem Floß, auf dem seine alte Retterin die Heringsfässer scheuerte. Seine Kinderwelt ragte noch in die meine. Aber meine lebt nur noch in ein paar verstreuten alten Menschen so weiter wie in mir. Langsam gleitet in mir das Bild meiner Vaterstadt, so wie ich es noch sah, hinab in die Dämmerung zu meinen Toten. Nicht vergessen. Aber ihnen gehörig und gegeben, Hort, den sie betreuen und mir bewahren, solange ich noch durch meinen Abend gehe und wach und begierig das neue Bild dieser Stadt, dieses Landes in mich aufnehme. In meine Seele trinke ich es, wie einst das Kind das Bild der alten Stadt, bis es sich mir unverlöschlich einprägt wie jenes. Herübernehmen will ich es in meinen letzten Schlaf, damit die drüben, die alle mit mir davon scheiden, träumen können von dieser Heimat, die sie sich selbst erwählten, die nach Leiden und Wanderung ihr schwererrungener, stumm und glühend geliebter Besitz war.

 

Nichts kannte ich als diese Heimat durch viele Jahre. Stadt war für das Kind immer nur diese Stadt, deren Dom es in den ersten Erdenschlaf gesungen, war vertrautes buntes Markttreiben zwischen Pregelbollwerk und schirmender Breite des mächtigen Schlosses, von dessen rotem Wächterturm der Choral herübergrüßte über Straßenlärm und Brückenklirren zu dem schwingenbrausenden Engel auf dem schlanken Turm im Süden, zu dem über Wälle und Friedhöfe die Militärsignale schmetterten.

 

Land war immer nur sanfter Hügelhang unterm Dorfkirchhof einer alten Ordenskirche, waren die grünen, herdebunten Wiesenweiten Natangens um silberne Stromwindung, war meilenweit wogende, blasse Roggenflut, sanft brandend an dunklen Waldrand auf jenseitigem Hügelufer. Küste war immer nur brandungsumtobter Samlandstrand, war dunstendes Tanggewirr, brausend verschüttet auf naßdunklem, steinbuntem Sand, wo man mit ungeduldigen braunen Händen kleine Bernsteinstückchen aus Algen und Tang klaubte, tiefer und tiefer einsinkend in mahlenden Sand, in strudelnde Feuchte, übersprüht von salzigem Nebel, windzerzaust wie Strandgras.

 

Und Ferne - was war Ferne? Ferne waren die Hochseedampfer im Hundegatt und an der Grünen Brücke, an deren Flaggen man die klingenden Namen lernte: Schweden und Schottland, Holland und Dänemark. Waren apfelsinengelbe Holzflöße, weit von Osten her, waren schwere Wittinnen mit klagendem Fiedellied. Aber nicht Ferne, sondern lustiger Nachbarbesuch waren die breiten Kähne vom Frischen Haff, die erste Kirschen brachten und Winterobst, dessen Duft überm Wasser lag, waren die andern langgestreckten Kähne, die zum Töpfermarkt das bunte Bunzlauer Geschirr herführten. Lockung nur zu Wanderschaft über das Nächstvertraute wie diese waren die Schlesinger Frauchen mit den bunten Schürzen und Leintüchern in den hohen Tragkörben, waren die braunen Rheinländer, Sommervögel wie sie, die in den hohen Gestellen das schwere Steinzeug ihrer Heimat an unsere Türen trugen, froh immer wieder begrüßt  erzählten sie nicht in einem Platt, das uns ganz vertraut klang, von ihrem Dom?

 

Weiter, aber längst nicht Ferne, nur ein Hof, zu dem man allezeit hinüberfahren konnte vom eigenen Grundstück, waren die Städte der Waterkant, deren Namen man lernte, kaum daß man sprechen konnte, an altem Schifferreim. Waren vor allem Danzig und Memel - mit gutmütigem Neid und Stolz genannte, wohlhabende angesehene Verwandtschaft, bei deren Namen man den Kienduft ihrer Holzplätze atmete, weiße Segeljachten, möwenumflattert, aus blauer Bucht, über stürmisches Tief in die offne See gleiten sah. Aber die Ohmchenstub im Vaterhaus, Wunschtraum der ehrgeizigen Kinder, erst dem Erwachsenen offen, um ehrwürdige Älteste bei Fest und Beratung zu hören - das war Hamburg! Hamburg, Vorburg am anderen Ufer, Hamburg, das aus blinkenden Feueraugen über die graue Nordsee blickt, von dessen Kai man mit Dampfern, groß wie eine Stadt, überall hinfahren konnte, wohin man sich sehnte - wenn man erst groß war!

 

Aber wo man hinkam, so gewiß wie auf die Schulbank und an den Kommunionstisch - das war Berlin! Berlin, tief im Land über Weichsel und Nogat, über Niederung und Heidesand, über Oder und Bruch - Berlin! Nicht das Sterntalermärchen, das auch so hieß, von dem wir uns abends im Winter, wenn draußen die Sterne in der eisigen Frostnacht funkelten, heimlich noch im Bett erzählten, jene immer helle Weihnachtsmarktstadt, wo jeder Arme Arbeit fand und auf den Reichen Kuchen und Braten warteten - nein, nicht jenes Berlin. Sondern das andere zwischen Brandenburger Tor und Wache, der lindengesäumte Tempelweg Preußens, den jeder von uns einmal gehen mußte, um vor der Siegesgöttin, die dort vor den Wolken ihr Viergespann lenkt, das heilige Feldzeichen erhoben - sich erschauernd als das Kind des Volks zu fühlen, das sie geführt. Um sich voll ergriffener Ehrfurcht zu fragen, wie man das eigne kleine Ich in der stummen   Selbstzucht   pflichterfüllten   Alltags   solchen Ruhms, solch strenger Größe wen erweisen könnte!

 

In dieser Welt wuchs ich, aus ihr kamen, die mich erzogen. Keinen andern Ehrgeiz, keine andre Aufgabe kannten sie als diese.

 

Einförmig mögen sie andern erschienen sein, in ihrer Eigenart nur den Ihren ganz vertraut. Sehr schlicht waren sie in Wort und Wesen - nicht weltmännisch, wie es dann eine spätere, nun auch schon versunkene Zeit von ihnen verlangen wollte. Aber sie hatten die ruhige Würde der in ihrem Selbstgefühl Sicheren, der in Heimat, Beruf und Sippe Verwurzelten. Aufrecht waren sie, diese Ruhigen, deren Nüchternheit doch Liebe kannte und tiefste Ehrfurcht vor Ehrwürdigem. Gern schmückten sie ihr Leben mit Schönem. Offen und unbestechlich wie Kinder erkannten sie, die eignes Gewerbe von Grund aus gelernt, den Wert guter Kunst. Sie alle, der Arme und der Bescheiden-Wohlhabende (denn „Reiche“ gab es hier nicht - was so hieß, war wie schon in der Vorzeit nur der durch den Besitz schöner Pferde vor andern Bevorzugte) liebten als schönste Freude, als besten Schmuck ihrer gastfreien Feste die Musik. Ein allzeit liederfrohes Herz ist das Herz meines Landes - Volkslied, unerschöpfliches - holdes Kunstlied, Choräle aller Festzeiten und ihr, Arien aller alten Opern - kannte ich euch nicht schon mit den ersten Kinderreimen?

 

Es ist eine der lautesten, der lebhaftesten Ecken der lebenbrausenden Stadt. Autos hupen, Rollwagen mit schweren Pferden rasseln, Räder blitzen, die Straßenbahn klirrt vorbei, Menschen mit Marktkörben und Koffern hasten zum Bahnhof, wo ich einmal mit dem Seehundranzen zum erstenmal allein zur Schule ging, während die Mutter mir nachwinkte. Aber dort, wo die Schienen blitzend abbiegen, spannten sich kleine Holzbrücken über das dunkle Wasser des Zuggrabens, wo die Schaufenster der hohen Mietshäuser locken, rauschten alte Gärten. Nur das niedrige graue Haus am

 

Marktplatz steht noch hinter den windzerzausten, straßen-staubgrauen Bäumen, die ich pflanzen sah. Aber keine Blumen nicken mehr bunt von der breiten Holzveranda in die Fiederblätter der alten Esche. Verschwunden ist sie wie das kleine Gärtchen darunter mit der Schneebailaube, wie die Kastanien des Nachbarhofs. Die hohe Tür ist noch die gleiche, aber nie war sie so fahl verwaschen, all die vielen;, immer wieder wechselnden Schilder hingen noch nicht an der Hauswand unter den großen Fenstern.

 

Das Licht spiegelt sich in ihnen - wie damals. Hinter den hohen blanken Scheiben steht der große, stille, helle Saal -unverändert. Die...

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