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marcstein
Überregionale Auswahl für Bildung und Kultur
Drogen-Prophylaxe
Ungeahnte Kräfte freisetzen
Von Rainer Schnurre
Der Sozialkünstler Rainer Schnurre arbeitet gelegentlich an
Waldorfschulen mit Eltern, Lehrern und Schülern an Drogen-
fragen und Suchtgefahren. In seiner Reportage schildert er
den wiederkehrenden typischen Ablauf eines solchen Pro-
phylaxe-Seminars. Red.
Waldorfeltern treten an mich heran und schil-
dern ihre begründeten Sorgen. Die Tochter, der Sohn
könnte zu Drogen greifen, der Tabak- und
Alkoholgenuss zu früh beginnen oder zu viel werden.
Vor allem aber liegt ihnen, wie sie immer wieder be-
tonen, die Vorbeugung, die Prophylaxe, am Herzen.
Denn sie würden gerne selbst an ihrer Waldorfschule
prophylaktisch arbeiten.
Die Gegenfrage: Statt auf all die berechtigten
Sorgen und Fragen unmittelbar einzugehen, stelle
ich, als meine erste Antwort, eine Gegenfrage: „Wer
von Ihnen trinkt Alkohol?“ – Die Atmosphäre schlägt
um. Alle ehrlichen Sorgen sind verschwunden, und
eine gewisse latente Feindlichkeit beseelt die Szene.
In der Regel antwortet zunächst jemand, der konse-
quent keinen Alkohol trinkt. Häufig folgt jetzt, wie
plötzlich: „Sie können mir doch nicht mein Glas
Wein zum Abendessen verbieten!“ Ich: „Ich habe
nur gefragt, wer Alkohol trinkt, weiter nichts.“
Betretenes Schweigen. – Mir ist es vertraut. Ich
werde dabei nicht mehr unruhig. Jemand durch-
bricht das ihm unerträgliche Schweigen: „Wir hat-
ten Sie eigentlich eingeladen, um mit Ihnen unsere
Sorgen und Befürchtungen zu besprechen, dass
unsere Kinder möglichst keine Drogen nehmen und
nicht dem Alkohol verfallen. Es geht uns um unsere
Kinder.“ Eine Andere: „Sie sind auf unsere Fragen
noch gar nicht eingegangen.“
Ich: „Doch, ich habe nur zu direkt geantwortet.
Schauen wir zunächst auf uns, die wir hier im Raum
versammelt sind.“ Eine andere Stimme: „Wir sind
doch keine Selbsterfahrungsgruppe.“ Eine Andere:
„Warum denn nicht? Wenn wir schon jemanden ein-
laden und befragen, dann können wir doch von ihm
nicht erwarten, dass er uns bequeme Antworten
gibt.“ Ein Vater: „Aber ich bitte dich, weil ich auch
ab und zu einen Wein trinke, habe ich doch nicht
gleich ein Alkoholproblem!“ Zustimmung von meh-
reren. Ich: „Was würden Sie sagen, ab wann hat
jemand ein Alkoholproblem?“
Die entscheidende Frage lautet etwa so:
»Nenne mir einen wahrhaft überzeugenden Grund, warum ich keine
Drogen nehmen oder keinen Alkohol trinken sollte? Nur einen!«
Eine Mutter: „Wenn jemand abhängig ist vom
Alkohol.“ Eine Andere: „Ja, wenn jemand süchtig ist
danach und ohne Alkohol nicht mehr leben kann.“
Ein Vater: „Woher weiß man denn überhaupt, wann
jemand süchtig ist und wann nicht? Die Grenzen
sind doch fließend.“ Die Anderen: „Genau.“ Ich: „Das
ist eine wesentliche Frage. Lassen Sie uns hierzu
eine Gesprächsgrundlage schaffen. Natürlich will
das später alles gründlich erarbeitet sein, aber zu-
nächst gebe ich Ihnen einen kurzen Überblick über
die Entwicklungsschritte, die in die Sucht führen
können (siehe »Sieben Schritte in die Sucht« auf
Seite m3). Stören Sie sich bitte nicht an dem Sche-
ma, es ist erst nach etwa 15 Jahren entstanden. Es
wurde nicht am Anfang erdacht.“
Ohne ein lebendiges Erleben dieser sieben Qua-
litäten bleibt ein solches Schema tot und richtet
bald mehr Unheil als Heilung an. Sobald aber diese
Qualitäten lebendig erarbeitet sind, kann dieses
Schema erweitert werden zu einem »Weg aus der
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Sucht«, und folgerichtig erscheint dann auch ein
dritter Weg: der »Prophylaxe-Weg«.
Wo beginnt die Abhängigkeit? Um mich auf
diesem »Weg in die Sucht« orientieren zu können,
brauche ich einen objektiven Maßstab. Wo ist die-
ser zu finden? Antwort: In der Mitte! Was aber ist
eine Mitte? – Sie ist ein Ort der Ohnmacht und der
Freiheit. Die entscheidende Frage: Was erscheint auf
den »Wegen in die Sucht« in der Mitte? Es ist die
»Abhängigkeit«. Dadurch wird deutlich: Eine Mitte
ist der Dreh- und Angelpunkt in lebendigen Prozes-
sen. Alles dreht, wendet und wandelt sich um sie
und durch sie hindurch. In der Beratung und Be-
gleitung erscheint eine erste zentrale Frage: Wie
weit ist die Abhängigkeit fortgeschritten? »Im Sta-
dium der Abhängigkeit kann der Mensch noch selbst
zurück, wenn auch
vielleicht mit Be-
gleitung. In der
Sucht gibt es kein
Zurück mehr. Da
gibt es nur noch
ein Durchkom-
men.« Betretenes
Schweigen.
Eine Mutter:
„Aber wie kann ich
wissen, ob ein
Jugendlicher viel-
oder Sie machen weiter wie bisher. Dann sind Sie
eben abhängig davon.“
Schockiertes Schweigen. Ein Vater: „Aber ich bitte
Sie! Dann kann ich ja zu keinem geselligen Beisam-
mensein mehr gehen. Überall wird heute Alkohol
genossen – fast überall.“ Ich: „Ja, es ist, wie Sie
sagen.“ Eine Mutter: „Aber ich bin doch nicht ab-
hängig, wenn ich ein-, zweimal im Monat ein Glas
Sekt trinke oder mit meinen Freundinnen eine schö-
ne Flasche Wein genieße.“ Ich: „Wenn Sie ohne
Alkohol nicht leben können, sind Sie abhängig von
ihm.“ Anderer Vater: „Jetzt reicht es aber! Ich lasse
mir doch nicht von Ihnen vorschreiben, ob ich
abhängig bin! Ich trinke nicht, sondern ich genieße.
Vielleicht verstehen Sie das nicht, aber ich genieße
gerne einen gepflegten Wein. Es gibt ihn jetzt sogar
in Demeter-Qualität, ohne die vielen Schadstoffe.
Und zu einem guten Essen gehört nun mal für mich
ein guter Wein! Und zu einem geselligen Abend
gehört manchmal auch ein guter Tropfen.“ Eine
Mutter: „Genau.“ Eine andere Mutter: „Trotzdem –
die Frage war ja: Bin ich abhängig? Und wenn ich
nicht auf Alkohol freiwillig verzichten kann, war
gesagt worden, bin ich abhängig. Er hat leider Recht.
Es ist wahr.“ Andere Mutter (fällt ihr ins Wort): „Du
hast gut reden, du verträgst ja keinen Alkohol, und
geraucht hast du noch nie!“ Die Angesprochene:
„Stimmt, ist aber nicht das Thema. Er hat Recht,
egal ob ich Alkohol trinke oder nicht. Wenn ich nicht
freiwillig verzichten kann, bin ich abhängig.“ Ein
Vater (fällt ihr ins Wort): „Ich lasse mir von nie-
mandem meinen Wein verbieten, weder von Ihnen,
noch von dir!“ Andere (lachend): „Von wegen nur
Wein!“ Angesprochener: „Jetzt reicht es mir aber!“
Ich: „Die zentrale Frage ist doch: Kann ich mir ein
Leben ohne Alkohol, ohne Tabak vorstellen?“ Jemand
(lachend): „Vorstellen schon!“ Eine: „Natürlich kann
ich mir das vorstellen, aber ich will mir von nie-
mandem vorschreiben lassen, ob ich meinen Wein
trinken darf oder nicht.“ Ich: „Um ein Vorschreiben
geht es ja wirklich nicht, sondern um die Frage: Ab
wann bin ich abhängig? Antwort: Wenn ich nicht
freiwillig verzichten kann, bin ich abhängig.“
Eine Mutter: „Aber eigentlich hatten wir Sie doch
eingeladen, um mit Ihnen über die Gefahren des
»Der Alkohol- und Tabakkonsum bewirkt
das Ausblenden der spirituellen Frage«
leicht schon abhängig ist, zum Beispiel vom Tabak
oder Alkohol?“ Ich: „Ganz einfach.“ Die Mutter:
„Ach, da bin ich aber gespannt!“ Allgemeine Heiter-
keit. Ich: „Ich nenne es, im übertragenden Sinn, den
seelischen »Lackmus-Schnelltest«. Schnell, weil er in
Bruchteilen einer Sekunde – zweifelsfrei – reagiert
und mir sofort Auskunft erteilt. Also jetzt der Lack-
mus-Schnelltest: Wer wissen will, ob er von irgend-
etwas abhängig ist, in unserem Beispiel von Tabak
und Alkohol, der lasse ihn ganz, ab sofort. – Die
Antwort geben Sie sich selbst durch die nachfol-
gende Handlung. Entweder Sie verzichten freiwillig,
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Sieben Schritte in die Sucht
wohnheit nicht sogleich umgesetzt werden kann, fehlt mir
etwas. Ich erlebe sie als lebensnotwendig.
1. Das erste Mal: Früher habe ich die falsche Ansicht vertre-
ten, das erste Mal stelle die Grundlage zur Sucht dar. Ich erklärte:
Wäre es nicht zum ersten Mal gekommen, hätte keine Sucht
daraus entstehen können. – formallogisch nicht falsch. In Wirk-
lichkeit war es lebensfeindlich gedacht. Das erste Mal ist un-
vergleichlich. Es ist das pralle Leben. Was es auch sei. – Das wirk-
liche Problem beginnt mit dem zweiten Mal.
5. Die Sucht: Sowenig ich die Abhängigkeit als Abhängigkeit
erkenne, sowenig die Sucht als Sucht. „Ich bin süchtig“, sage ich
erst, wenn alle, wirklich alle Ausreden aufgebraucht sind. Gera-
de der Süchtige sagt immer wieder: „Ich könnte jeden Tag auf-
hören.“ Aus der Sucht komme ich deshalb alleine nicht mehr
heraus. Das Problem ist, dass ich grundlos glaube, es allein zu
schaffen.
2. Die Wiederholung: Mit dem zweiten Mal, der ersten
Wiederholung, beginnt (unbemerkt) die Gefahr. – War das erste
Mal zum Beispiel ein Schreckenserlebnis, will ich einmal ein
»gutes« Erlebnis haben. War das erste Mal ein »gutes« Erlebnis,
will ich es noch mal haben. Das zweite Mal wird aber nie wie
das erste Mal. Also noch mal, noch mal, noch mal ...
6. Chronische Sucht: Chronisch süchtig ist, wer sich täglich
sagt, er könne jederzeit aufhören, aber nur noch mit der stünd-
lichen Befriedigung seiner Sucht beschäftigt ist. Dies geht so
lange, bis es nicht mehr weitergeht. Es folgen Zusammenbruch
auf Zusammenbruch, Entzug nach Entzug. Ein Ende ist schwer
abzusehen.
3. Die Gewöhnung: Unvermerkt werden die vielen Wiederho-
lungen zur Gewohnheit. Woran ich mich gewöhnt habe, ge-
schieht mit einer gewissen Regelmäßigkeit. – Mir fehlt nun
etwas, sobald es der Angewohnheit widerspricht.
7. Todessehnsucht: Chronische Sucht führt zur Sehnsucht
nach dem letzten, dem »goldenen Schuss«, der einen hinüber-
trägt über den »Abgrund«, oder zum letzten »goldenen Schluck«,
der mich aus dem »Tal der Tränen« führt, oder zur »allerletzten
Zigarette«, die mich ins »Nirwana« leitet.
4. Die Abhängigkeit: Sobald die mir lieb gewordene Ge-
Alkohol- und Drogenkonsums und eine mögliche
Prophylaxe zu sprechen für unsere heranwachsen-
den Kinder und Jugendlichen. Und nun spricht er nur
über uns, mit uns.“ Ich: „Das ist die Voraussetzung,
um überhaupt wirksame Prophylaxe betreiben zu
können.“ Eine Mutter (fast entrüstet): „Selbst der
Lehrer für Drogenfragen an unserer Schule trinkt ab
und zu Alkohol. Das ist doch seine Privatsache.
Dagegen ist doch nichts einzuwenden.“ Ich: „Aber
doch! Es ist nicht mehr allein seine Privatsache,
wenn er für Drogenfragen und sogar für Prophyla-
xe an der Schule zuständig ist.“ Eine andere: „Aha,
jetzt kommt doch das Verbot von Ihnen.“ Ich: „Nein,
kein Verbot, nur Konsequenz und Klarheit. Prophy-
laxe-Arbeit gehört zum Allerschwersten. Diese
Arbeit darf ich mir nicht willkürlich greifen und so
tun, als ob ich sie mir, wie ein schönes Kleid, über-
werfen könnte. Prophylaxe ist keine übliche Auf-
klärungsarbeit mehr. Ich brauche dazu ganz
bestimmte Fähigkeiten, und diese habe ich zunächst
nicht. Diese schmerzliche Einsicht ist eine erste Vor-
aussetzung. Denn wirkliche Prophylaxe-Arbeit geht
nicht nur bis zum Verstand, da bliebe alles im Kopf
stecken und ohne tiefere Wirkung. Im Kopf sind
auch die Jugendlichen verständig, ja sogar vernünf-
tig, aber nicht im Können und Handeln, weder die
Jugendlichen noch wir Erwachsenen – Anwesende
ausgenommen.“ (Angestrengte Heiterkeit). Ich: „Wer
Prophylaxe-Arbeit ohne energische Selbstschulung
betreiben wollte, ist ähnlich demjenigen, der eilig
irgendwohin will und mit Vollgas losbraust, aber
gleichzeitig die Handbremse fest angezogen hat,
ohne es zu bemerken. Echte Prophylaxe-Arbeit setzt
bewusste, energisch geübte Selbsterkenntnis und
Selbstüberwindung voraus.
Das Gandhi-Beispiel: Eine Mutter kommt mit
ihrem Kind zu Gandhi und sagt: „Bitte – sag meinem
Sohn, er soll keine Süßigkeiten mehr essen. Es tut
ihm nicht gut. Und auf dich hört er.“ Gandhi ant-
wortet: „Kommt in einer Woche wieder.“ Nach sie-
ben Tagen ist sie mit ihrem Sohn zurück, und Gand-
hi sagt zu dem Kind: „Verzichte auf die Süßigkeiten.
Es wird dir gut tun.“ Die Mutter ruft entgeistert:
„Aber Gandhi, warum hast du ihm das nicht gleich
gesagt?“ Gandhi: „Ich musste doch erst selbst auf
die Süßigkeiten verzichten können.“
Alles andere ist unwahr und keine Prophylaxe,
höchstens Propaganda, als Aufklärung verkleidet.
Wer in der Prophylaxe-Arbeit tätig werden will,
muss – bitte beachten Sie den lebendigen Wider-
spruch – freiwillig verzichten können und wollen.
Verzicht ist keine Qual, wie viele meinen, sondern
das schmale Tor zur Freiheit ohne Zwang. Schwei-
gend freiwillig geübter Verzicht setzt ungeahnte
Kräfte in Ihnen frei. Deshalb ist er auch der einzige
Schlüssel aus der Abhängigkeit und hilfreich in der
Suchttherapie. Freiwilliger Verzicht ist auch der
Zentralbegriff in der Prophylaxe-Arbeit. Weil Ihnen
durch die eigenen freiwilligen Verzichtübungen eben
erst die Kräfte zuwachsen, die Ihnen sonst mangeln,
wenn Sie im Konsum verstrickt bleiben, vor dem Sie
die Jugend bewahren wollten.»
Probieren Sie diesen Meditationssatz aus. Er
lautet: »Ich will verzichten!«. Er bewirkt Wunder,
aber nur bei denen, die Ernst mit ihm machen. Dann
ist es aber kein Wunder, sondern mehr. In der allge-
meinen Aufklärung kann ich immer noch diskutie-
ren. Die ist nur für den Kopf. In der Prophylaxe darf
ich nicht mehr diskutieren wollen, sondern arbeite
stattdessen streng an mir selbst, wegen des Kraft-
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zuwachses, den ich unbedingt brauche. – Diejeni-
gen, die hier wirken wollen, müssen der einen Frage
der Kinder und Jugendlichen gewachsen werden.
Denn sobald Sie ihnen konkret entgegentreten, um
ihnen »Aufklärung« oder gar »Prophylaxe« zuzumu-
ten zu Drogenfragen, Alkohol- und Tabakkonsum,
werden Sie erbarmungslos mit einer unausgespro-
chenen Frage konfrontiert, die sie zu beantworten
haben. Wird sie nicht ehrlich beantwortet, bleiben
die Kinder und Jugendlichen Ihnen gegenüber her-
metisch verschlossen. Die Frage lautet in etwa so:
„Nenne mir einen wahrhaft überzeugenden Grund,
warum ich keine Drogen nehmen oder keinen Alko-
hol trinken sollte? Nur einen!“
Suchen Sie diese Rätselfrage zu lösen. Wel-
chen Grund Sie auch aufzeigen werden, er ist weder
wahrhaftig noch überzeugend, solange Sie Alkohol
trinken, Drogen nehmen, Tabak rauchen. – Verzich-
te ich selbst nicht freiwillig auf diesen Konsum, kann
ich weder wahr noch überzeugend antworten, weil
ich durch meinen eigenen Konsum die fest angezo-
gene Handbremse bin, von der ich vorhin sprach.
Obwohl gerade diese Frage der jungen Menschen ein
volles Durchstarten ermöglichen würde. Sie selbst
sind durch Ihren Alkoholgenuss, Ihren Tabakgenuss
die lebendige Antwort. Denn Sie wissen selbst kei-
nen Grund. Deswegen trinken Sie ja selbst Alkohol
und rauchen.
Das ist die bescheidene Wahrheit. Aber wer
wagt hier konsequent zu werden? Diese erste Konse-
quenz wollen Sie schon nicht eingehen, aber trotz-
dem Prophylaxe betreiben. Daraus wird nichts wer-
den. Aufklärung, für den Kopf, die kann man immer
bekommen. Bücher und Zeitschriften ohne Ende.
Aufklärung, die bis ins Gefühl reicht, kann nur leis-
ten, wer freiwillig verzichtet, auf das, worüber er
hier aufklären will. Prophylaxe-Arbeit hat als ihren
wahren Grund die Freiheit. Und wer nicht freiwillig
verzichten kann auf Alkohol und Tabak, ist abhän-
gig und das heißt unfrei. Prophylaxe-Arbeit ist prak-
tische Erziehung zur Freiheit. Sie ist die Fähigkeit,
einen bereits ein Stück weit selbst vorweg gelebten
Weg in die Freiheit, Schritt für Schritt beschreiben
zu können. Meiner ist anders als deiner. Hier helfen
keine Vergleiche. Überzeugend sind nur Ihre weni-
gen errungenen Siege auf dem langen Weg Ihrer
unzähligen Niederlagen. Das ist, wenn es klar,
humorvoll, mit Abstand, souverän vorgetragen wer-
den kann, ein Maßstab für die Jugend.
Kein Maßstab im Sinne von: »Ich will werden wie
er.« Das wäre bloße Illusion. Sondern: Hier steht
einer vor dir, mit vielen Defiziten, unglaublich vie-
len Niederlagen. Aber durch alle Niederlagen hin-
durch ist er wieder und wieder aufgestanden. Jetzt
steht er aufrecht vor dir. Und wenn du ihn fragst:
„Sag mir einen überzeugenden Grund, warum ich
nicht Drogen nehmen soll und auf Alkohol und
Tabak verzichten soll“, dann lacht der Prophylaxe-
Arbeiter und erwidert vielleicht: „Dir gehe ich nicht
auf den Leim! – Deinen Grund musst du schon selbst
finden. Aber ich sage dir meinen Grund, wenn du ihn
hören willst.“ Vielleicht erwidert er: „Ja, dein Grund
interessiert mich.“ – „Mein Grund ist die Liebe zur
Freiheit. Und die Prophylaxe-Arbeit mache ich, weil
mir deine Freiheit genauso wichtig ist wie die meine.“
Nach einer längeren Besinnungspause sagt der
einzig anwesende Lehrer: „Ja, es ist spät geworden.
Wir, die Eltern und ich, danken Ihnen, dass Sie zu uns
gekommen sind. Jetzt haben wir sicher viele Anre-
gungen zum Nachdenken bekommen. Wir verarbei-
ten das jetzt erst einmal in Ruhe und melden uns
dann, bei Bedarf, wieder bei Ihnen.“ Ich: „Danke für
Ihre Geduld und dass Sie diese Zumutungen ausge-
halten haben.“
Erleichterung bei der Verabschiedung – endlich ist
er draußen.
Sucht blendet die spirituelle Frage aus: Die
Grundfrage aller Prophylaxe-Arbeit wurde noch
nicht berührt: Warum wird überhaupt zu Drogen, zu
Alkohol und Tabak gegriffen? Etwas fehlt in der
Gesellschaft. Welche Frage wird denn in der Gesell-
schaft nicht bearbeitet? Es ist die soziale Frage: Wie
gehen wir miteinander um? Sie ist ausgeblendet. –
Denn sie ist eine spirituelle Frage und lebt mitten
zwischen uns. In ihrem Gefolge erscheint zugleich
die erweiterte soziale Frage. Das ist die Karma-
Frage. Auch sie blieb ausgeblendet. Denn auch sie ist
eine spirituelle Frage. Der Alkohol- und Tabakkon-
sum bewirkt das Ausblenden der spirituellen Frage:
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1
Die Jugend sucht den Zugang zur geistigen Welt.
Wir versperren ihr diesen Zugang, solange wir ihn
selbst nicht finden. Unser Alkoholkonsum ist der
gelebte Beweis dafür. Die Jugend will Erlebnisse
geschildert bekommen, auch Erlebnisse aus der An-
wendung von Anthroposophie. Meine Niederlagen
und Defizite will sie genau beschrieben bekommen,
weil sie sich darin wiedererkennt. Die Jugend sucht
heute keine Helden mehr, sondern Menschen. Das
aber heißt: »Zeige Deine Wunde.« Erst erlebte, erlit-
tene, ja selbst durchlittene »spiritualisierte Prophy-
laxe« wird die junge Generation wieder erreichen.
Wer jetzt noch »über sie« und »über« die geistige
Welt redet und nicht durch sie, ohne diesen durch-
littenen Erlebnishintergrund, versperrt der Jugend
die Wege zu ihr, »sät Wind und wird Sturm ernten.«
Nicht die bequeme Neigung zum Mittelmaß, die
Liebe zur Freiheit hilft uns weiter. Die Mittelmäßig-
keit, die Mäßigkeit der „ein, zwei Gläser“, bewirkt
Krieg. Spiritualisierte Prophylaxe-Arbeit ist aber
Friedensarbeit, praktizierte Erziehung zur Freiheit.
Aber zuerst zur eigenen ...
Aus: DAS GOETHEANUM Nr. 31/32 2004
Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten? Dornach Tb 600
Rainer Schnurre
Schreinerlehre, Film-Regisseur, Schreiben, Malerei.
Seit 1980 Entwicklung der »Sozialkunst-Gestaltung«,
Ausbildung »Dynamisches Tierkreis-Zeichnen«, HP-Ausbil-
dung, Suchttherapeut. Seit 1990 Mitbegründer der ARCHE
NOVA Berlin. Seit 1998 Ausbildung in Logopädie nach
Viktor Frankl. www.kuenstler-fuer-menschenrechte.de
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Schreibtherapie
Ich habe ein Kräutlein gefunden
Von Friedrich Hölderlin
Sein Halbbruder Karl Gock sei in seiner Arbeit unglücklich, er-
fährt Friedrich Hölderlin. Weil er Karls Briefadresse nicht
kennt, schreibt er an seine Schwester Heinrike und bittet sie,
ihm seinen Plan zu sagen. – Neben Poesie birgt der Brief
einen pädagogisch-therapeutischen Kunstgriff. Red.
Den guten Karl bedaur ich,
Kräutlein im Schreiberstande
findet. Sag ihm, ich habe ein
Kräutlein gefunden, das jenes
bittre ganz vergessen mache.
Es sei – Beschäftigung des
denkenden Geistes. – Ob wir
nicht zu dem Ende kleine
Aufsätze wechseln wollten,
mein Karl und ich? – Ob er
mir nicht in glücklichen
Stunden die Frage auseinander-
setzen wolle:
Wie gelangt man zur wahren
Zufriedenheit? Ich will
auch einen kleinen Aufsatz
drüber machen, und dann,
wenn Karl den seinen mir
geschickt hat, ihm auch den
meinen kommunizieren. Oder
sollte ihm eine andre Materie
gerade geläufiger sein, er soll sie
wählen, ohne Rücksicht auf
meinen Vorschlag, und ich will
dann auch seine Materie wäh-
len. Mir ist äußerst viel daran
gelegen, dass der liebe Karl
meinen Plan gut heißt. Ich
hoff es. Ich erwarte bald
einen Aufsatz.
B. Nr. 37 (StA. 6,65f.), gesetzt in Julia-HandScript
Das Pastellgemälde zeigt den 22-jährigen Hölderlin, wie ihn
sein Jugendfreund Franz Karl Hiemer sah.
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dass er so bald ein bitter
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Zgłoś jeśli naruszono regulamin