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Rainer Wahl
Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und
internationalen Umfeld 1
1 Die Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit
Das 20. Jahrhundert hat in seiner zweiten Hälfte einen 1945 nicht vorhergesehenen globalen
Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit erlebt. 2 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
im Grundgesetz des Jahres 1949 vorgesehen und 1951 3 errichtet, ist ein Teil dieses Prozesses
und zugleich in bedeutendem Maße auch Impulsgeber dieser Entwicklung. 4 Vor 1945 hat es
nur in vier Ländern eine Verfassungsgerichtsbarkeit unterschiedlichen Umfangs gegeben, so
im klassischen Pionier- und Mutterland der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, in der
Schweiz, in Österreich und in Irland. 5 Erst nach 1945 beginnt die bis zur unmittelbaren Ge-
genwart andauernde Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit. 6 Den Anfang machten Staa-
ten mit Diktaturerfahrungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wie Italien (1948/1956)
und die Bundesrepublik Deutschland (1949/1951). Diesem Muster folgten in den 1970er
Jahren Spanien, Portugal und Griechenland nach ihrem Systemwechsel zur Demokratie und
nach 1989 die „Transformationsstaaten“ in Ost- und Südosteuropa. Längst aber hatte sich
die Verfassungsgerichtsbarkeit als adäquater Ausdruck und Schlussstein des Verfassungs-
staats so überzeugend bewährt, dass die Institution auch ohne Systemwechsel zum Normal-
bestandteil einer gewaltenbalancierenden Verfassung wurde, so in Belgien (1984), länger
schon in den skandinavischen Staaten, und verbreitet auch außerhalb Europas z. B. in den
Commonwealth-Ländern (Australien, Canada, Indien), in Lateinamerika, in Afrika und Ost-
asien. 7 Ganz fehlt eine Verfassungsgerichtsbarkeit z. B. in den Niederlanden. 8
1 Geringfügig (um Abschnitt 3.4) erweiterter Abdruck des Aufsatzes aus: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beila-
ge zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 3, 37 -38/2001, S. 45-54 (Wahl, Rainer: Verfassungsstaat, Europäi-
sierung, Internationalisierung, 2003, S. 254-274).
2 So schon 1976 Peter Häberle, in: ders. (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. XI.
3 Das BVerfG ist in Art. 92 und 93 GG (1949) vorgesehen, das in Art. 94 Abs. 2 GG vorgesehene Gesetz über
das BVerfG vom 12. März 1951 trat am April 1951 in Kraft. Aufgrund der Verzögerungen bei der Richterwahl
konnte das Gericht seine Tätigkeit erst am 8. September 1951 aufnehmen; mit Staatsakt vom 28. Sept. 1951
wurde das Gericht feierlich eröffnet.
4 Fromont, Michael: La justice constiutionelle dans le monde, 1996, S. 17 ff. spricht von drei Generationen der
Verfassungsgerichtsbarkeit, von denen das BVerfG die zweite anführt.
5 Seine Funktion als Verfassungsgericht nahm der U.S. Supreme Court 1803, das schweizerische Bundesgericht
1874 und der Österreichische Verfassungsgerichtshof 1920 auf. Auch die irische Verfassung von 1937 sah ei-
nen Supreme Court nach dem amerikanischen Modell vor, dazu Fromont, a. a. O. (Fn. 4), S. 19.
6 Zum Unterschied zwischen verselbständigter und in die Gerichtsbarkeit integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit
s. unten 2.1.
7 Eine tabellarische Übersicht über die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt zum Stand 30.08.1991 bei Zier-
lein, Karl-Georg: Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der
Staatsverfassung. Ein Überblick über die Rechtslage in und außerhalb Europas, in: EuGRZ 1991, S. 301, 341.
8 Ihre Verfassung (Art. 120) verbietet dem Richter die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und
Verträgen.
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Als neue Institution des deutschen Staatslebens hat das BVerfG rasch den normativen
Mantel des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wirkungsvoll ausge-
füllt, sich seinen Platz als oberster verbindlicher Interpret des Verfassungsrechts und der
Verfassung gesichert und vor allem grundsätzliche Anerkennung gefunden. 9 Das Wort vom
Gang nach Karlsruhe ist in Deutschland so sprichwörtlich geworden wie der Satz, dass
Karlsruhe entschieden hat. Zu Recht hat vor zwei Jahren anlässlich des 50-jährigen Jubi-
läums des Grundgesetzes einer der besten ausländischen Kenner des deutschen Verfassungs-
rechts, der Franzose Michel Fromont, den Satz geprägt: „Das Bundesverfassungsgericht ist
die einzige völlige Neuschöpfung des Grundgesetzes. Es ist auch die auf der ganzen Welt
wohl bekannteste deutsche Einrichtung“. 10 In der Tat bedeutete die Einführung einer umfas-
senden, eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit einen qualitativen Entwicklungsschub
für das deutsche Staatsrecht. Das BVerfG und seine Rechtsprechung haben wiederholt als
Vorbild gewirkt, wie überhaupt ein beträchtlicher Einfluss des deutschen Verfassungsrechts
in Spanien, 11 Portugal, Südkorea und Südafrika 12 zu verzeichnen ist. Ähnlich verhält es sich
in den südosteuropäischen und osteuropäischen Staaten und ihren neuen Verfassungsge-
richtsbarkeiten. 13 Neben dem Supreme Court zählt das BVerfG zu den Verfassungsgerichten
mit der größten Ausstrahlung auf andere Gerichte. 14
9 Eine Anerkennung, die durch manchen aufwallenden Unmut aus Anlass einzelner umstrittener Urteile nicht
wirklich beeinträchtigt wurde und wird.
10 Fromont, Michael: Das Bundesverfassungsgericht aus französischer Sicht, in: DÖV 1999, S. 493.
11 Dazu differenziert Llorente, Francisco Rubio: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, in: Starck, Christian /
Weber, Albrecht (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, Teilband I: Berichte, 1986, S. 249 sowie Cruz
Villalón, Pedro: Landesbericht Spanien, in: Starck, Christian (Hg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungs-
rechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990 mit Landesberichten; S. 193 ff. Dezi-
diert ders.: Bericht Spanien, in: Battis, Ulrich / Mahrenholz, Ernst / Tsatsos, Dimitris (Hg.), Das Grundgesetz
im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 93: „Es gilt in Spanien als unbestritten,
daß das Bonner Grundgesetz die ausländische Verfassung ist, die den größten Einfluß auf unsere Verfassung
von 1978 ausgeübt hat. (...). Wenn man vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte absieht, so ist die
Rechtsprechung des BVerfG auch diejenige, die vom spanischen Verfassungsgericht am meisten berücksichtigt
wird“.
12 Zu allen vier Ländern ausführlich Kokott, Juliane: From Reception and Transplantation to Convergence of
Constitutional Models in the Age of Globalisation – with special References to the German Basic Law, in:
Starck, Christian (Hg.), Constitutionalism, Universalism and Democracy – a comparative analysis, 1999, S. 71-
134 ff. mit vielen Einzelbelegen zu direkten und indirekten Rezeptionen und Transplantaten.
13 Zimmermann, Andreas: Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung mittel- und osteu-
ropäischer Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit,
in: Frowein, Jochen A. / Marauhn, Thilo (Hg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und
Osteuropa, 1998, S. 89 ff. Ständige Berichte und Aufsätze über die Entwicklungen in (Süd)Osteuropa finden
sich in der Zeitschrift für Osteuroparecht; vgl. auch die Nachweise unten Fn. 53.
14 Ausführlich ist der internationale Wirkungszusammenhang zwischen den Verfassungsgerichten anlässlich des
40. Jubiläums des Grundgesetzes in zwei großen Sammelbänden dokumentiert worden, s. Starck, a. a. O.
(Fn. 11); Battis u. a., a. a. O. (Fn. 11). – In beiden Sammelbänden finden sich zu allen hier behandelten Fragen
des (wechselseitigen) Einflusses des BVerfG auf eine Reihe von anderen Verfassungsgerichten vielfältiges
Material; darauf sei generell verwiesen.
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2 Überblick über die Landschaft der Verfassungsgerichte
2.1 Die Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Für einen ersten Überblick über die weite Landschaft der Verfassungsgerichte in der Welt
empfiehlt sich die vielfach verwendete und schon klassisch gewordene Einteilung von zwei
Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit. 15 Der eine Typ ist das amerikanische , erstmals beim
Supreme Court (S. C.) ausgebildete Modell, bei dem Verfassungsgerichtsbarkeit als Funkti-
on, nicht als eigene Institution erscheint und sie deshalb vom obersten Gericht wahrgenom-
men wird. Der S. C. vereinigt die Funktionen des obersten Gerichts im normalen Instanzen-
zug mit der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem einheitlichen Gericht (Ein-
heitsmodell). 16 Zu diesem Typ gehören die meisten Staaten des Commonwealth wie Austra-
lien, Neuseeland, Canada, Indien sowie auch Irland, die Schweiz und die skandinavischen
Staaten und auch die Mehrzahl der südamerikanischen Länder. 17 Demgegenüber hat erstmals
der Verfassungsgerichtshof in Österreich und dann das BVerfG den Typ des eigenständigen
und damit institutionell verselbständigten Gerichts verwirklicht ( österreichisch-deutsches
Modell ). 18 In Europa hat in den letzten Jahren eindeutig dieses Trennungsmodell die Ober-
hand gewonnen. 19 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass im Einheitsmodell die Ge-
richte zum Teil deutlich geringere Kompetenzen haben 20 , in neuerer Zeit aber kompetenz-
starke Verfassungsgerichtsbarkeiten begründet werden sollen. Zu diesem Typ gehören etwa
Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Liechtenstein, Spanien, Polen, Portugal, Türkei,
Ungarn, Tschechien und Russland.
2.2 Die typusprägenden Merkmale der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit 21
Will man die Position des deutschen BVerfG in der weltweiten Landschaft der Verfassungs-
gerichte verorten, dann empfiehlt es sich zunächst die typusprägenden Merkmale aufzulis-
ten.
(1) An erster Stelle ist die institutionelle Selbständigkeit des BVerfG 22 neben – oder rich-
tiger – über den obersten Fachgerichten zu nennen.
15 So schon Cappelletti, Mario / Ritterspach, Theo: Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Ge-
setze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts (JöR), Bd. 20, 1971, S. 65 ff.;
Cappelletti, Mario / Cohen, William: Comparative Constitutional Law, Charlottesville, 1979, S. 84-95; v.
Brünneck, Alexander: Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfas-
sungsvergleich, 1992; Joachim Wieland in: Dreier, Horst (Hg.), Grundgesetz, Bd. 3, 2000, Art. 93, Rdnr. 26 ff.;
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in:
NJW 1999, S. 9 ff.; Andreas Voßkuhle, in: v. Mangoldt, Herrmann / Klein, Friedrich / Starck, Christian: GG-
Kommentar, Bd. 3, 4. Aufl., 2001, Art. 93 Rdnr. 14 ff. (Einheits- und Trennungsmodell).
16 Von Cappelletti / Cohen, a. a. O. (Fn. 15), S. 94 ff. „dekonzentrierte“ oder „diffuse“ Verfassungsgerichtsbar-
keit genannt, weil alle Gerichte die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze prüfen können.
17 Zur Ausstrahlung des Modells der USA auf Südamerika, einige Commonwealth-Staaten und ostasiatische Län-
der Grote, Rainer: Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (2001), S. 10, 45 ff., 47 ff. sowie 48.
18 Dazu jetzt Häberle, Peter: Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichts-
barkeit, in: FS BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 311 ff.
19 Wieland, a. a. O. (Fn. 15), Art. 93, Rdnr. 28.
20 Wieland, a. a. O. (Fn. 15), Art. 93, Rdnr. 27.
21 Der Text folgt den Ausführungen in Wahl, Rainer: Die Reformfrage, in: FS BVerfG, Bd. 1., 2001, S. 463 f. (=
ders.: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 213 ff.).
22 Dazu Häberle, a. a. O. (Fn. 18), S. 311.
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(2) Wegen seiner institutionellen Verselbständigung ist das BVerfG aus dem Zusammen-
hang der Gerichtsbarkeiten in einem Maße herausgehoben und in eine Sonderrolle hineinge-
stellt, dass eine Qualifikation als Verfassungsorgan erwägenswert wird, wie sie § 1
BVerfGG 23 – unter dem Beifall der Lehre – zum Ausdruck bringt. Diese im internationalen
Vergleich wohl wenige Parallelen findende Formel stellt das Gericht in eine dezidierte Nähe
zu den politischen Verfassungsorganen. Sie ist deshalb problematischer, als es die ständige
affirmative Zitierung vermuten lassen könnte. 24
(3) Das BVerfG hat sehr weite – man ist geneigt zu sagen, die denkbar weitesten – Zu-
ständigkeiten ; es hat eine international gesehen einzigartige Kompetenzfülle. 25 Das BVerfG
hat alle Zuständigkeiten der traditionell diskutierten (aber vorher selten verwirklichten)
Staats -Gerichtsbarkeit als Entscheidung über Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsor-
ganen und zusätzlich mit der Verfassungsbeschwerde die breitflächige Kontrolle über das
Staatshandeln gegenüber dem Bürger. Diese Kombination konstituiert das BVerfG als um-
fassendes Verfassungs gericht. Die Kurzcharakteristik der wichtigsten Verfahrensarten 26 be-
legt dies:
(a) Der Organstreit ist eine Verfahrensart, die tief in die spezifischen politischen Kon-
flikte zwischen den obersten Organen hineinführt. Er ist insoweit die „politischste“ Verfah-
rensart. Auslöser eines Verfahrens können der Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Par-
teien, Fraktionen und einzelne Abgeordnete sein.
(b) Der Bund-Länder-Streit macht das Bundesstaatsverhältnis der gerichtlichen Entschei-
dung zugänglich. Er hat in den 50er Jahren Schrittmacherdienste für die Etablierung der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit geleistet.
(c) Mit der Zuständigkeit für (abstrakte und konkrete) Normenkontrollen zur Überprü-
fung der Verfasssungsmäßigkeit hat das BVerfG eine Zuständigkeit, die zum Kern der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit gehört. Gleichwohl ist sie schwierig, weil sie das Gericht unmittel-
bar mit dem Gesetzgeber konfrontiert und das vom Parlament, dem demokratischen Haupt-
organ, beschlossene Gesetz zum einzigen Entscheidungsgegenstand macht.
(d) Die Verfassungsbeschwerde ist eine in hohem Maße bürgerbezogene Verfahrensart:
Jedermann kann sich mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrech-
ten verletzt zu sein, nach Erschöpfung des Rechtswegs an das BVerfG wenden. In der Regel
richtet sich die Beschwerde gegen das letztinstanzliche Gerichtsurteil (sog. Urteilsverfas-
sungsbeschwerde). In dieser Gestalt erreicht sie Zahlen von 4.500-5.000 Beschwerden pro
Jahr. 27 In diesen großen Zahlen und der Einschlägigkeit für nahezu alle Gebiete des Rechts
23 § 1 BVerfGG: „Das Bundesverfassungsgericht ist ein den übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständi-
ger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes“.
24 Kritisch zu dieser Qualifizierung Schoch, Friedrich / Wahl, Rainer: Einstweilige Anordnung des Bundesverfas-
sungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, in: FS Ernst Benda, 1995, S. 265, 284, Fn. 62; Voßkuhle,
a. a. O. (Fn. 15), Art. 93, Rdnr. 28 u. 19. S. auch Schlaich, Klaus: Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl.
1997, Rdnr. 30-35.
25 Es fehlt allein die Popularklage, die aber in Ungarn, wo es sie gibt, besondere Überlastungsprobleme schafft,
sodass man ihr Fehlen nicht als Mangel bezeichnen kann, dazu Brunner, Georg: Die neue Verfassungsgerichts-
barkeit in Ungarn, in: FS Fritz Stern, 1997, S. 1041, 1052, 1056.
26 Zu jeder Verfahrensart findet sich ein aussagekräftiger Überblick über die wichtigsten Entscheidungen bei
Wieland, a. a. O. (Fn. 15) Art. 93, vor Rdnr. 1, S. 384.
27 Die aktuellen Zahlen sind abrufbar unter: www.bundesverfassungsgericht.de (Stichwort „Organisation“ und
„Jahresstatistik“).
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führt die Verfassungsbeschwerde zur Veralltäglichung und Ubiquität der Verfassungsge-
richtsbarkeit – ein Ergebnis, das in kaum einem anderen Land eine Entsprechung findet. 28
2.3 Rechtsvergleichung in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit:
Notwendigkeit und Funktion
Bei der Rechtsvergleichung im Verfassungsrecht 29 geht es, wie auch sonst, nicht in erster
Linie oder überhaupt nicht darum, die vielfältigen, auf der gesamten Welt verwirklichten
Modelle als eine Art Warenhauskatalog zu verstehen, aus denen das Beste ausgewählt wird.
Rechtsvergleichung ist nicht immer oder primär auf der Suche nach besseren Varianten oder
immer nur eine Vorstufe von Reformforderungen, sondern häufiger und tiefer verstanden ei-
ne wichtige Methode, das eigene Recht im Spiegel anderer Rechtsordnungen in seinen Vor-
und Nachteilen besser zu verstehen. 30 Insofern will das Vergleichen der weltweiten Verfas-
sungsgerichtsbarkeiten einen Normalbaustein der Architektur gegenwärtiger Verfassungen
in seiner Vielfalt und seinen Binnenvarianten verständlich machen. Die Verfassungsgerichts-
barkeit (als Funktion oder eigene Institution) ist ubiquitär geworden. Gerade deshalb darf
man aber nicht Einheitlichkeit im Umfang und Gewicht ihrer Zuständigkeiten, in der Kon-
trollintensität und generell in ihrer Rolle gegenüber den obersten Staatsorganen erwarten.
Die notwendige Vergleichung hat vielfache Themen 31 , hier steht der Umfang der Zuständig-
keiten im Vordergrund.
Konstitutiv für die heutige Verfassungsgerichtsbarkeit und Kern ihrer Zuständigkeiten ist
ein Verfahren zum Zweck der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen . Der
verbreitete Konsens über die Berechtigung, ja Notwendigkeit einer Normenkontrolle ist
nicht selbstverständlich. In Ländern, in denen die Souveränität des volksgewählten Parla-
ments als Basis des Verfassungslebens angesehen wird, ist der gedankliche Weg zur Aner-
kennung einer Kontrolle eben dieses Parlaments sehr weit und voraussetzungsvoll. Frank-
reich, ein klassisches Land dieses Denkens, kennt die Normenkontrolle nur als präventive
Kontrolle vor Inkrafttreten des Gesetzes auf Antrag hoher Verfassungsorgane. Für das Ver-
einigte Königreich mit seiner noch stärker ausgeprägten Tradition der Parlamentssouveräni-
tät ist die Normenkontrolle bis vor kurzem ganz fernliegend gewesen. In den letzten Jahren
28 Unter anderem sind aufgrund von Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger folgende bekannte Urteile ergan-
gen: das Apothekenurteil zur Berufsfreiheit (BVerfGE 7, 377 [386 ff.]), das Mephisto-Urteil zum allgemeinen
Persönlichkeitsrecht (BVerfGE 30, 173 [182 ff.]) und das Mitbestimmungsurteil zur Koalitionsfreiheit (E 50,
290 [318 ff.]) sowie die Urteile über den Maastricht-Vertrag und das Flughafenverfahren im Asylrecht.
29 Dazu zuletzt Tomuschat, Christian: Das Bundesverfassungsgericht im Vergleich mit der Verfassungsgerichts-
barkeit des Auslands, in: FS BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 245 ff.
30 Dazu ausführlich Wahl, Rainer: Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: FS Helmut Quaritsch,
2000, S. 163-182, und zur Bedeutung der Vergleichung ders.: Die Reformfrage, a. a. O. (Fn. 21) (= ders.: Ver-
fassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 96).
31 So behandelt z. B. v. Brünneck, a. a. O. (Fn. 15) die Themen: Entstehung; Organisation; Verfahren der Gerich-
te; Entscheidungsprozesse; dissenting vote; Zugang zum Gericht; Verfahrensarten; Richterwahl; Einfluss der
Parlamente, Regierungen und Parteien auf Wahl, Qualifikation und berufliche Erfahrungen; Inhalt und Dogma-
tik der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen; Gründe für die Ausdehnung und Angleichung der Verfas-
sungsgerichtsbarkeit; Kriterien für die Befugnisse. – A. Weber behandelt in seinem „Generalbericht“, in:
Starck / Weber, a. a. O. (Fn. 11), S. 49 ff.: Stellung und Organisation, Status der Gerichte, ausführlich die Zu-
ständigkeiten, die Verfahren und die Stellung der Verfassungsgerichte im politischen Prozess.
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