Martin Heidegger - Wissenschaft und Besinnung.doc

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WISSENSCHAFT UND BESINNUNG

[1953]

Nach einer geläufigen Vorstellung bezeichnen wir den Bereich, worin sich die geistige und schöpferische Tätigkeit des Menschen abspielt, mit dem Namen «Kultur». Zu ihr rechnet auch die Wissenschaft, deren Pflege und Organisation. Die Wissenschaft ist so unter die Werte eingereiht, die der Mensch schätzt, denen er aus verschiedenen Beweggründen sein Interesse zuwendet.

Solange wir die Wissenschaft jedoch nur in diesem kulturellen Sinne nehmen, ermessen wir niemals die Tragweite ihres Wesens. Das Gleiche gilt von der Kunst. Noch heute nennt man beide gern zusammen: Kunst und Wissenschaft. Auch die Kunst läßt sich als ein Sektor des Kulturbetriebes vorstellen. Aber man erfährt dann nichts von ihrem Wesen. Auf dieses gesehen, ist die Kunst eine Weihe und ein Hort, worin das Wirkliche seinen bislang verborgenen Glanz jedesmal neu dem Menschen verschenkt, damit er in solcher Helle reiner schaue und klarer höre, was sich seinem Wesen zuspricht.

Sowenig wie die Kunst ist die Wissenschaft nur eine kulturelle Betätigung des Menschen. Die Wissenschaft ist eine und zwar entscheidende Weise, in der sich uns alles, was ist, darstellt. Darum müssen wir sagen: die Wirklichkeit, innerhalb derer sich der heutige Mensch bewegt und zu halten versucht, wird nach ihren Grundzügen in zunehmendem Maße durch das mitbestimmt, was man die abendländischeuropäische Wissenschaft nennt.

Wenn wir diesem Vorgang nachsinnen, dann zeigt sich, daß die Wissenschaft im Weltkreis des Abendlandes und in den Zeitaltern seiner Geschichte eine sonst nirgends auf der Erde antreffbare Macht entfaltet hat und dabei ist, diese Macht schließlich über den ganzen Erdball zu legen.

Ist nun die Wissenschaft nur ein menschliches Gemächte, das sich in eine solche Herrschaft hochgetrieben hat, so daß man meinen könnte, es ließe sich eines Tages durch menschliches Wollen, durch Beschlüsse von Kommissionen auch wieder abbauen? Oder waltet hier ein größeres Geschick? Herrscht in der Wissenschaft anderes noch als ein bloßes Wissenwollen von seiten des Menschen? So ist es in der Tat. Ein Anderes waltet. Aber dieses Andere verbirgt sich uns, solange wir den gewohnten Vorstellungen über die Wissenschaft nachhängen.

Dieses Andere ist ein Sachverhalt, der durch alle Wissenschaften hindurch waltet, ihnen selber jedoch verborgen bleibt. Damit dieser Sachverhalt in unseren Blick kommt, muß jedoch eine hinreichende Klarheit darüber bestehen, was die Wissenschaft ist. Wie sollen wir dies erfahren? Am sichersten, so scheint es, dadurch, daß wir den heutigen Wissenschaftsbetrieb schildern. Eine solche Darstellung könnte zeigen, wie die Wissenschaften seit geraumer Zeit sich immer entschiedener und zugleich unauffälliger in alle Organisationsformen des modernen Lebens verzahnen: in die Industrie, in die Wirtschaft, in den Unterricht, in die Politik, in die Kriegführung, in die Publizistik jeglicher Art. Diese Verzahnung zu kennen, ist wichtig. Um sie jedoch darstellen zu können, müssen wir zuvor erfahren haben, worin das Wesen der Wissenschaft beruht. Dies läßt sich in einem knappen Satz aussagen. Er lautet: Die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen.

Der Satz will weder eine fertige Definition, noch eine handliche Formel liefern. Der Satz enthält lauter Fragen. Sie erwachen erst, wenn der Satz erläutert wird. Vordem müssen wir beachten, daß der Name «Wissenschaft» in dem Satz «die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen» stets und nur die neuzeitlichmoderne Wissenschaft meint. Der Satz «die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen» gilt weder für die Wissenschaft des Mittelalters, noch für diejenige des Altertums. Von einer Theorie des Wirklichen bleibt die mittelalterliche doctrina ebenso wesentlich verschieden wie diese wiederum gegenüber der antiken episteme Gleichwohl gründet das Wesen der modernen Wissenschaft, die als europäische inzwischen planetarisch geworden ist, im Denken der Griechen, das seit Platon Philosophie heißt.

Durch diesen Hinweis soll der umwälzende Charakter der neuzeitlichen Art des Wissens in keiner Weise abgeschwächt werden; ganz im Gegenteil: das Auszeichnende des neuzeitlichen Wissens besteht in der entschiedenen Herausarbeitung eines Zuges, der im Wesen des griechisch erfahrenen Wissens noch verborgen bleibt und der das griechische gerade braucht, um dagegen ein anderes Wissen zu werden.

Wer es heute wagt, fragend, überlegend und so bereits mithandelnd dem Tiefgang der Welterschütterung zu entsprechen, die wir stündlich erfahren, der muß nicht nur beachten, daß unsere heutige Welt vom Wissenwollen der modernen Wissenschaft durchherrscht wird, sondern er muß auch und vor allem anderen bedenken, daß jede Besinnung auf das, was jetzt ist, nur aufgehen und gedeihen kann, wenn sie durch ein Gespräch mit den griechischen Denkern und deren Sprache ihre Wurzeln in den Grund unseres geschichtlichen Daseins schlägt. Dieses Gespräch wartet noch auf seinen Beginn. Es ist kaum erst vorbereitet und bleibt selbst wieder für uns die Vorbedingung für das unausweichliche Gespräch mit der ostasiatischen Welt.

Das Gespräch mit den griechischen Denkern und d. h. zugleich Dichtern, meint jedoch keine moderne Renaissance der Antike. Es meint ebensowenig eine historische Neugier für solches, was inzwischen zwar vergangen ist, aber noch dazu dienen könnte, uns einige Züge der modernen Welt historisch in ihrer Entstehung zu erklären.

Das in der Frühe des griechischen Altertums Gedachte und Gedichtete ist heute noch gegenwärtig, so gegenwärtig, daß sein ihm selber noch verschlossenes Wesen uns überall entgegenwartet und auf uns zukommt, dort am meisten, wo wir solches am wenigsten vermuten, nämlich in der Herrschaft der modernen Technik, die der Antike durchaus fremd ist, aber gleichwohl in dieser ihre Wesensherkunft hat.

Um diese Gegenwart der Geschichte zu erfahren, müssen wir uns aus der immer noch herrschenden historischen Vorstellung der Geschichte lösen. Das historische Vorstellen nimmt die Geschichte als einen Gegenstand, worin ein Geschehen abläuft, das in seiner Wandelbarkeit zugleich vergeht.

In dem Satz «die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen» bleibt früh Gedachtes, früh Geschicktes gegenwärtig.

Wir erläutern jetzt den Satz nach zwei Hinsichten. Wir fragen einmal: Was heißt «das Wirkliche»? Wir fragen zum andern: Was heißt «die Theorie»?

Die Erläuterung zeigt zugleich, wie beide, das Wirkliche und die Theorie, aus ihrem Wesen aufeinander zugehen.

Um zu verdeutlichen, was im Satz «die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen» der Name «das Wirkliche» meint, halten wir uns an das Wort. Das Wirkliche erfüllt den Bereich des Wirkenden, dessen, was wirkt. Was heißt «wirken»? Die Beantwortung der Frage muß sich an die Etymologie halten. Doch entscheidend bleibt, wie dies geschieht. Das bloße Feststellen der alten und oft nicht mehr sprechenden Bedeutung der Wörter, das Aufgreifen dieser Bedeutung in der Absicht, sie in einem neuen Sprachgebrauch zu verwenden, führt zu nichts, es sei denn zur Willkür. Es gilt vielmehr, im Anhalt an die frühe Wortbedeutung und ihren Wandel den Sachbereich zu erblicken, in den das Wort hineinspricht. Es gilt, diesen Wesensbereich als denjenigen zu bedenken, innerhalb dessen sich die durch das Wort genannte Sache bewegt. Nur so spricht das Wort und zwar im Zusammenhang der Bedeutungen, in die sich die von ihm genannte Sache durch die Geschichte des Denkens und Dichtens hindurch entfaltet.

«Wirken» heißt «tun». Was heißt «tun»? Das Wort gehört zum indogermanischen Stamm dhê; daher stammt auch das griechische thesis: Setzung, Stellung, Lage. Aber dieses Tun ist nicht nur als menschliche Tätigkeit gemeint, vor allem nicht als Tätigkeit im Sinne der Aktion und des Agierens. Auch Wachstum, Walten der Natur physis ist ein Tun und zwar in dem genauen Sinne der thesis. Erst in späterer Zeit gelangen die Titel physis und thesis in einen Gegensatz, was wiederum nur deshalb möglich wird, weil ein Selbiges sie bestimmt. physis ist thesis: von sich aus etwas vorlegen, es herstellen, her und vorbringen, nämlich ins Anwesen. Das in solchem Sinne Tuende ist das Wirkende, ist das Anwesende in seinem Anwesen. Das so verstandene Wort «wirken», nämlich her und vorbringen, nennt somit eine Weise, wie Anwesendes anwest. Wirken ist her und vorbringen, sei es, daß etwas sich von sich aus her ins Anwesen vorbringt, sei es, daß der Mensch das Her und Vorbringen von etwas leistet. In der Sprache des Mittelalters besagt unser deutsches Wort «wirken» noch das Hervorbringen von Häusern, Geräten, Bildern; später verengt sich die Bedeutung von «Wirken» auf das Hervorbringen im Sinne von nähen, sticken, weben.

Das Wirkliche ist das Wirkende, Gewirkte: das ins Anwesen Hervorbringende und Hervorgebrachte. «Wirklichkeit» meint dann, weit genug gedacht: das ins Anwesen hervorgebrachte Vorliegen, das in sich vollendete Anwesen von Sichhervorbringendem. «Wirken» gehört zum indogermanischen Stamm uerg, daher unser Wort «Werk» und das griechische ergon Aber nicht oft genug kann eingeschärft werden: der Grundzug von Wirken und Werk beruht nicht im efficere und effectus, sondern darin, daß etwas ins Unverborgene zu stehen und zu liegen kommt. Auch dort, wo die Griechen – nämlich Aristoteles von dem sprechen, was die Lateiner causa efficiens nennen, meinen sie niemals das Leisten eines Effekts. Das im ergon sich Vollendende ist das ins volle Anwesen Sichhervorbringende; ergon ist das, was im eigentlichen und höchsten Sinne anwest. Darum und nur darum nennt Aristoteles die Anwesenheit des eigentlich Anwesenden die energeia oder auch die entelecheia: das SichinderVollendung (nämlich des Anwesens) halten. Diese von Aristoteles für das eigentliche Anwesen des Anwesenden geprägten Namen sind in dem, was sie sagen, durch einen Abgrund getrennt von der späteren neuzeitlichen Bedeutung von energeia im Sinne von «Energie» und entelecheia im Sinne von «Entelechie» als Wirkanlage und Wirkfähigkeit.

Das aristotelische Grundwort für das Anwesen, energeia ist nur dann sachgerecht durch unser Wort «Wirklichkeit» übersetzt, wenn wir unsererseits «wirken» griechisch denken im Sinne von: her ins Unverborgene, vor ins Anwesen bringen. «Wesen» ist dasselbe Wort wie  «währen», bleiben. Anwesen denken wir als währen dessen, was, in der Unverborgenheit angekommen, da verbleibt. Seit der Zeit nach Aristoteles wird jedoch diese Bedeutung von energeia: imWerkWähren, verschüttet zugunsten anderer. Die Römer übersetzen, d, h. denken ergon von der operatio als actio her und sagen statt energeia actus, ein ganz anderes Wort mit einem ganz anderen Bedeutungsbereich. Das Her und Vorgebrachte erscheint jetzt als das, was sich aus einer operatio ergibt. Das Ergebnis ist das, was aus einer und auf eine actio folgt: der Erfolg. Das Wirkliche ist jetzt das Erfolgte. Der Erfolg wird durch eine Sache erbracht, die ihm voraufgeht, durch die Ursache (causa). Das Wirkliche erscheint jetzt im Lichte der Kausalität der causa efficiens. Selbst Gott wird in der Theologie, nicht im Glauben, als causa prima, als die erste Ursache, vorgestellt. Schließlich drängt sich im Verfolg der UrsacheWirkungsbeziehung das Nacheinander in den Vordergrund und damit der zeitliche Ablauf.

Kant erkennt die Kausalität als eine Regel der Zeitfolge. In den jüngsten Arbeiten von W. Heisenberg ist das Kausalproblem ein rein mathematisches Zeitmessungsproblem. Allein mit diesem Wandel der Wirklichkeit des Wirklichen ist noch ein anderes, nicht minder Wesentliches verbunden. Das Erwirkte im Sinne des Erfolgten zeigt sich als Sache, die sich in einem Tun, d. h. jetzt Leisten und Arbeiten herausgestellt hat. Das in der Tat solchen Tuns Erfolgte ist das Tatsächliche. Das Wort «tatsächlich» spricht heute im Sinne des Versicherns und besagt so viel wie «gewiss» und «sicher». Statt «es ist gewiß so», sagen wir «es ist tatsächlich so», «es ist wirklich so». Daß nun aber das Wort «wirklich» mit dem Beginn der Neuzeit, seit dem 17. Jahrhundert, so viel bedeutet wie «gewiss», ist weder ein Zufall, noch eine harmlose Laune des Bedeutungswandels bloßer Wörter.

Das «Wirkliche» im Sinne des Tatsächlichen bildet jetzt den Gegensatz zu dem, was einer Sicherstellung nicht standhält und sich als bloßer Schein oder als nur Gemeintes vorstellt. Allein auch in dieser mannigfach gewandelten Bedeutung behält das Wirkliche immer noch den früheren, aber jetzt weniger oder anders hervorkommenden Grundzug des Anwesenden, das sich von sich her herausstellt.

Aber jetzt stellt es sich dar im Erfolgen. Der Erfolg ergibt, daß das Anwesende durch ihn zu einem gesicherten Stand gekommen ist und als solcher Stand begegnet. Das Wirkliche zeigt sich jetzt als GegenStand.

Das Wort «Gegenstand» entsteht erst im 18. Jahrhundert und zwar als die deutsche Übersetzung des lateinischen «obiectum». [....] weder das mittelalterliche noch das griechische Denken stellen das Anwesende als Gegenstand vor. Wir nennen jetzt die Art der Anwesenheit des Anwesenden, das in der Neuzeit als Gegenstand erscheint, die Gegenständigkeit.

Sie ist in erster Linie ein Charakter des Anwesenden selber. Wie jedoch die Gegenständigkeit des Anwesenden zum Vorschein gebracht und das Anwesende zum Gegenstand für ein Vorstellen wird, kann sich uns erst zeigen, wenn wir fragen: was ist das Wirkliche in Bezug auf die Theorie und somit in gewisser Weise mit durch diese? Anders gewendet fragen wir jetzt: was heißt im Satz «die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen» das Wort «Theorie»? Der Name «Theorie» stammt von dem griechischen Zeitwort theorein. Das zugehörige Hauptwort lautet theoria. Diesen Worten eignet eine hohe und geheimnisvolle Bedeutung. Das Zeitwort theorein ist aus zwei Stammworten zusammengewachsen: thea und horao. thea (vgl. Theater) ist der Anblick, das Aussehen, worin sich etwas zeigt, die Ansicht, in der es sich darbietet. Platon nennt dieses Aussehen, worin Anwesendes das zeigt, was es ist, eidos. Dieses Aussehen gesehen haben, eidenai, ist Wissen. Das zweite Stammwort in theorein, das horao, bedeutet: etwas ansehen, in den Augenschein nehmen, es besehen. So ergibt sich: theorein ist thean horan: den Anblick, worin das Anwesende erscheint, ansehen und durch solche Sicht bei ihm sehend verweilen.

Diejenige Lebensart (bios) die aus dem theorein ihre Bestimmung empfängt und ihm sich weiht, nennen die Griechen den bios theoretikos, die Lebensart des Schauenden, der in das reine Scheinen des Anwesenden schaut. Im Unterschied dazu ist der bios praktikos die Lebensart, die sich dem Handeln und Herstellen widmet. Bei dieser Unterscheidung müssen wir jedoch stets eines festhalten: für die Griechen ist der bios theoretikos, das schauende Leben, zumal in seiner reinsten Gestalt als Denken, das höchste Tun. Die theoria ist in sich, nicht erst durch eine dazukommende Nutzbarkeit, die vollendete Gestalt menschlichen Daseins. Denn die theoria ist der reine Bezug zu den Anblicken des Anwesenden, die durch ihr Scheinen den Menschen angehen, indem sie die Gegenwart der Götter bescheinen. Die weitere Kennzeichnung des theorein, dass es die archai und aitiai des Anwesenden vor das Vernehmen und Darlegen bringt, kann hier nicht gegeben werden; denn dies verlangte eine Besinnung darauf, was das griechische Erfahren unter dem verstand, was wir seit langem als principium und causa, Grund und Ursache, vorstellen (vgl. Aristoteles, Eth. Nic.VI c. 2, 1139 a sq).

Mit dem höchsten Rang der theoria innerhalb des griechischen bios hängt zusammen, daß die Griechen, die auf eine einzigartige Weise aus ihrer Sprache dachten, d. h. ihr Dasein empfingen, im Wort theoria noch Anderes mithören mochten. Die beiden Stammworte ...

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