Victoria Laurie - M.J. Holliday 02 - Gespenster kuesst man nicht.pdf

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1
»Er ist spät dran«, knurrte Gilley, mein Geschäftspartner und
bester Freund, und starrte düster aus dem Fenster. »Jeden Tag
kriegt er ein Riesentrinkgeld von mir, und was ist der Dank?«
Ich löste den Blick von dem Zeitschriftenartikel, den ich ge-
rade las, und sah auf die Uhr. Es war zwei Minuten nach zehn.
»Oh Mann«, sagte ich sarkastisch. »Er ist zwei geschlagene
Minuten zu spät! Mein Gott, wie hältst du das nur aus?«
Gil drehte sich zu mir um, und seine ganze Wut auf den Boten
verlagerte sich auf mich. »M.J.«, grollte er, »ich verlange von
diesem Kerl nur eine winzige Gefälligkeit, nämlich, dass er mir
täglich um Punkt zehn eine Cola light und einen Bagel mit
Frischkäse liefert. Nicht so um zehn mm. Oder kurz nach zehn.
Oder irgendwann zwischen acht und zwölf. Um Punkt zehn, das
heißt, nicht später als …«
Ich verdrehte die Augen und wandte mich wieder dem Artikel
zu. Bis Gil ein paar Schlucke von seiner Cola light gehabt hatte,
war es sinnlos, ein anständiges Gespräch mit ihm führen zu
wollen. Ebenso sinnlos war es, ihm ein paar Vorschläge zu ma-
chen, wie es sich umgehen ließe, jedes Mal auf Entzug zu
kommen, wenn der Bagel-Bote sich verspätete – er könnte zum
Beispiel im Besenschrank einen Vorrat an Cola light bunkern
oder sich schon auf dem Weg zur Arbeit eine kaufen. Nein, Gil
wollte den morgendlichen Ablauf genau so haben, wie er war,
einschließlich des Ausrasters, wenn sein Frühstück nicht pünkt-
lich vor ihm stand. Ich hatte den starken Verdacht, dass er nur
deshalb so an dieser Routine klebte, weil der Bote so schnuckelig
war. Dass dieser definitiv nicht schwul war, störte Gil nicht; er
flirtete trotzdem mit ihm.
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Gil begann ungeduldig in meinem Büro hin- und
herzustapfen, was furchtbar störend war, aber ich verkniff mir
tunlichst, etwas dagegen zu sagen.
»Doc ist ein hübscher Vogel!«, krähte mein Graupapagei.
»Doc will Schokopops!«
Ich lächelte während des Lesens in mich hinein. Doc hatte es
drauf, die Spannung zu lockern. »Doc Sahneschnitte! Doc Sah-
neschnitte!«, krähte er aufgeregt.
Ich hob den Blick und sah Doc an. »Ist er da?«
Zur Antwort öffnete sich die Eingangstür unseres Büros, und
aus dem Foyer ertönte ein »Guten Morgen!«.
Gil ließ das Herumtigern und gab sich sichtlich Mühe, eine
entspanntere Miene aufzusetzen. »Wir sind hier«, rief er.
Rasch ließ ich meine Zeitschrift in einer Schublade ver-
schwinden, zog meinen Laptop heran und legte die Finger auf die
Tasten. Im nächsten Moment trat – über eins achtzig, dunkel-
haarig und zum Anbeißen – Dr. Steven Sable durch die Tür, der
dritte Partner unseres Geisterjäger-Unternehmens. »Hallo,
Team«, sagte er mit seinem samtigen Bariton, der von einem
spanisch-deutschen Akzent gefärbt war.
»Morgen«, sagten Gil und ich im Chor.
»Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass du heute Morgen
kommst«, fügte ich hinzu. »Hast du nicht Vorlesungen?« Steven
war im aktuellen Sommersemester, das gerade begonnen hatte,
Gastdozent für kardiovaskuläre Thoraxchirurgie an der Univer-
sity of Massachusetts.
»Die fallen aus. Im Hörsaal gab es einen Wasserrohrbruch. Er
wurde überschwemmt, und die Verwaltung hat die Lehrveran-
staltungen vorerst abgesagt.«
»Es ist Juni«, wunderte sich Gil. »Wie kann im Juni ein
Wasserrohr platzen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Steven und setzte sich mir ge-
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genüber. Kurz sahen wir uns an, und es knisterte heftig.
»Oh, der Verband ist ab«, sagte ich, als mir seine vernarbte,
noch leicht geschwollene Hand auffiel. Bei einer unglücklich
verlaufenen Geisterjagd vor einigen Wochen war er von einer
Kugel getroffen worden.
Steven drehte die Hand nach allen Seiten. »Ist so gut wie neu.«
»Freut mich für dich«, sagte ich. »Und schön, dass du da bist,
aber leider ist heute nicht viel los. Keine Geisterjagd in Sicht,
fürchte ich.«
»Keine neuen Fälle?«
»Nicht ein einziger«, sagte Gil. »Scheint, als wäre gerade
Flaute.«
»Was ist mit den Hendersoris?«, fragte Steven. Das war unser
letzter Fall gewesen. »Hatten sie noch Probleme?«
»Nein«, sagte ich. »Ach, Mrs Henderson hat uns zum Dank
einen Obstkorb vorbeischicken lassen. Das Haus war jetzt zwei
Wochen lang ganz friedlich.«
»Also volle Hose«, sagte Steven. Ich sollte vielleicht erwäh-
nen, dass Englisch seine fünfte Sprache ist, und manchmal hapert
es heftig.
Ich schielte zu Gil hinüber und bemerkte, dass er angefangen
hatte zu schwitzen. Der Wanduhr nach hatte seine Cola jetzt
offiziell zehn Minuten Verspätung. »Gil«, sagte ich sanft. »Fahr
doch zum Imbiss und hol dir dein Frühstück.«
Gil nickte nur kurz und eilte davon.
»Was hat er denn?«, fragte Steven.
»Er braucht um Punkt zehn seinen Koffeinschub. Wenn nicht,
müssen wir es alle ausbaden.«
deshalb so an dieser Routine klebte, weil der Bote so schnu-
ckelig war. Dass dieser definitiv nicht schwul war, störte Gil
nicht; er flirtete trotzdem mit ihm.
Gil begann ungeduldig in meinem Büro hin-
und
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